Andacht zur Tageslosung am 8. Mai 2020

"HERR, lass mir deine Barmherzigkeit widerfahren, dass ich lebe." Psalm 119, 77

 

Das Alte Testament wurde in hebräischer Sprache geschrieben. Es ist in die Sprachen aller Herren Länder übersetzt worden. Wir benutzen natürlich deutsche Übersetzungen, die meistens - direkt oder indirekt - von derjenigen Martin Luthers inspiriert sind.

 

Wer einmal eine längere Passage - vielleicht aus dem Englischen, Französischen oder Russischen - übersetzt hat, weiß, wie kompliziert und heikel es ist, den Wortsinn angemessen in gutes Deutsch zu bekommen. Wie weit darf man gehen und sich interpretierend oder verdeutlichend von der wortwörtlichen Vorlage entfernen? Wann wird es eher eine Übertragung oder Paraphrase, die zwar meinem Verständnis entspricht, sich jedoch zunehmend vom Original entfernt, so dass von einer Übersetzung kaum noch geredet werden kann?

 

Es ist bekannt, dass Luther die Kunst beherrschte, wortwörtlich zu übersetzen und doch zugleich ein poetisches, frisches und melodisches Deutsch zu schreiben. Genau dafür wird er ja auch bewundert.

 

Heute aber wollen wir anlässlich unserer Tageslosung einmal die Lupe auspacken und einen genaueren Blick auf eines der interessantesten Wörter der hebräischen Sprache richten. Es wird von Luther mit "Barmherzigkeit" wiedergegeben.

 

Im Urtext lautet es rachamim, wörtlich als "Sich-Erbarmen" zu übersetzen. Das ist ein so genanntes Abstraktplural zu rächäm, von dem es abgeleitet ist; dieses wird übersetzt mit "Mutterschoß, Eingeweide". (Vgl. zum folgenden Jenni/ Westermann, Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, München 1979, Bd. 2, 761-768)

 

Die Ableitung vom "Mutterschoß" bezeichnet "das in diesem Körperteil lokalisierte Sich-Erbarmen ... Die allgemeine Bedeutung des Verbums ist die einer sich zumeist vom Höheren zum Niederen erstreckenden Liebe ('sich erbarmen') ...; namentlich im Aramäischen [der Sprache Jesu] wird die Bedeutung zu 'lieben' überhaupt erweitert."

 

Es ist uns im Abstand von so vielen Jahrhunderten nicht mehr möglich, zu ermitteln, wie intensiv die ursprüngliche Bedeutung vom "Mutterschoß" im abgeleiteten "Erbarmen" (wörtlich "Mutterschößlichkeit") durchschimmerte. Aber die Wortgeschichte ist nicht zufällig. Schwingungen und Resonanzen bleiben erhalten, das eine findet sich immer auch im anderen.

 

So schwingt, glaube ich, im Hebräischen die warme, mütterliche Qualität der Geborgenheit, der Zuwendung und des Trostes mit, wenn von Gottes Erbarmen die Rede ist. Dazu passt auch die Wendung "dass ich lebe", denn alles Leben geht aus dem Mutterschoß hervor. Es ist eine besonders schöne Eigenart, die Liebe Gottes so mütterlich-herzlich zu zeichnen, wie es die hebräische Sprache tun kann.

 

Luther konnte nicht einfach "Mutterschößlichkeit" übersetzen; das kling eher albern und funktioniert nicht in unserer Sprache. Er benutzt, für rachamim auch nicht einfach "Erbarmen". Erschien es ihm zu schwach? Gab es die Möglichkeit, die mütterlich-herzliche Seite zum Ausdruck zu bringen, indem das "herzliche Erbarmen" eingefangen werden kann? Ich mutmaße, die Verschmelzung zu "Barmherzigkeit" war eine Möglichkeit, die unsere Muttersprache anbietet.

 

In unserer Bildwelt ist die Liebe mit dem Herzen verbunden. Gottes Liebe zu den Menschen ist darum Barmherzigkeit. Von genau dieser Liebe zeugt die Art, mit der sich Christus den Menschen zuwandte, z. B. der Schwiegermutter des Petrus. Wir wüßten gar nicht, dass der Apostel verheiratet war, wenn Christus nicht seine Schwiegermutter bei der Hand genommen und geheilt hätte; auch ein Werk der Barmherzigkeit:

 

"Die Schwiegermutter Simons aber lag darnieder und hatte das Fieber; und alsbald sagten sie Jesus von ihr. Und er trat zu ihr, ergriff sie bei der Hand und richtete sie auf; und das Fieber verließ sie." Mk 1, 30-31

 

Gott erweise auch unserem geliebten Heimatland und seinem Volk, das in vieler Hinsicht krank ist vor Angst und daniederliegt in geistiger Lähmung, seine heilende Barmherzigkeit, auf dass es lebe.  

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019