Gedanken zur Tageslosung am Freitag, den 12. Juni 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Du, HERR, du kennst mich, du siehst mich und prüfst, ob mein Herz bei dir ist." Jer 12,3

 

„Ich weiß nicht, wer mich in die Welt gesetzt hat, und auch nicht, was die Welt und ich selbst sind. Ich weiß nicht, was mein Körper, meine Sinne, meine Seele und selbst jener Teil meines Ichs sind, der denkt. Ich sehe überall nur Unendlichkeiten, die mich wie ein Atom und wie einen Schatten einschließen. Alles, was ich erkenne, ist, daß ich bald sterben muß; doch was ich am wenigsten begreife, ist gerade dieser Tod, dem ich nicht entgehen kann.“

 

Räteslfrage des Tages: Von welchem Formulierungskünstler stammen diese Worte? Kann man es erraten? Würde man auf einen Naturwissenschaftler oder Mathematiker oder Physiker oder Astronomen tippen? Wahrscheinlich nicht. Doch der Mann, der sie formulierte, war genau das. Seine Vernunft hatte ihn an diesen Punkt geführt. Der Mensch sei zart und zerbrechlich, wie ein "denkendes Schilfrohr", so hat er ihn genannt. "Der letzte Schritt der Vernunft ist anzuerkennen, dass es unendlich viele Dinge gibt, die über sie hinausgehen".

 

Er hat sich damit scharf gegen den französischen Philosphen Descartes ausgesprochen. Von diesem stammt der Satz: "Ich denke, also bin ich", d. h. mein Verstand ermöglicht allein klare und deutliche Beweise, er ist der Grund meines Seins und meiner Seinsgewißheit, in ihm finde ich meinen Stand usw. Das klingt bis heute sehr modern, denn weite Teile unserer Zeitgenossen denken so ähnlich.

 

Unser Protagonist sagt: Es genügt nicht, sich allein auf eine "Ordnung der Vernunft" zu gründen. "Es ist ebenso unnütz, wie lächerlich, wenn die Vernunft, um zuzustimmen, vom Herzen Beweise für seine ersten Prinzipien verlangt, wie es lächerlich sein würde, wenn das Herz von der Vernunft ein Gefühl fordern würde." Er beobachtet, dass, selbst wenn der Mensch das gesamte Universum erforscht hätte, seine Lebensfragen noch längst nicht beantwortet wären.

 

So stößt er auf ein weiteres, wichtiges Erkenntnisprinzip. Es ist nicht der Kopf, die Vernunft oder der Verstand, sondern das Herz. Auf das Herz kommt es an. Hier haben wir es ganz mit uns zu tun. Der Mensch ist erkennbar an seiner Herzenshaltung. Dort ist die leibseelische Mitte zu finden. Das Erkenntnisprinzip des Herzens nennt er nun "raison du coeur", d. h. "Vernunft des Herzens". "Das Herz hat seine Ordnung; der Geist hat die seine, die aus Grundsätzen und Beweisen besteht. Das herz hat eine andere. Man beweist nicht, dass man geliebt werden muss, durch geordnete Darlegung der Ursache der Liebe, das wäre lächerlich."

 

Unser französischer Wissenschaftler ist dem Geheimnis der Liebe Gottes sehr nahe gekommen. In der Nacht des 23. November 1654 hatte er eine mystische Gottesbegegnung, die er auf einem Pergamentzettel (Mémorial) kurz beschreibt und in seine Kleidung eingenäht hat, damit er sie immer über dem Herzen tragen konnte. Das hat man nach seinem Tod durch Zufall entdeckt.

 

Wie sieht es aus mit meiner "Vernunft des Herzens"? Führt sie mich zu Gott? Ist mein Herz bei ihm? Hänge ich mein Herz an ihn? (M. Luther)

 

"Jesus spricht: Wie mich mein Vater liebt, so liebe ich euch auch. Bleibt in meiner Liebe!" Joh 15,9

 

Was schriebe ich persönlich auf mein "Mémorial", das ich über dem Herzen trüge, damit ich nie vergäße, in seiner Liebe zu bleiben?

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019