Gedanken zur Tageslosung am Montag, den 24. August 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner 

"Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein." Ps 23,5

 

Was mag Joseph, der 11. Sohn Jakobs, gedacht haben, als seine zehn älteren Brüder ihn verprügelten, in eine ausgetrocknete Zisterne steckten und anschließend als Sklaven an midianitische Händler verkauften, auf dass sie ihn endlich los würden? Er hatte bis dahin nicht gewusst, dass er unversöhnliche Feinde hat. Er dachte vielmehr, sie müssten die hohe Meinung, die er von sich selbst hat, teilen und ihn mit dergleichen Liebe lieben, mit der er sich selber liebt. Das ist ein sträflich-kindlicher Irrtum. Damals begann seine Irrfahrt in ein fremdes Land mit fremden Menschen und ungeahnten Gefahren.

 

Die Brüder blieben nicht die letzten Feinde, die ihm begegneten. Schmerzhaft musste er erfahren, dass es in der Welt der Erwachsenen unerklärlicherweise Feindschaft gibt, obwohl er sie nicht gesucht hat. Ich gehe davon aus, dass wohl niemand willentlich jemandes Feind sein oder umgekehrt andere Menschen zu Feinden haben möchte. Aber es geschieht trotzdem und wir können es oft nicht hindern.

 

Der Psalm 23, sagt man, sei der Psalm "vom Guten Hirten". Konfirmanden lernen ihn seit Jahrhunderten auswendig, damit sie wissen, woher ihnen Hilfe kommt, wenn sie in Not geraten. Und in Not werden sie geraten, weil jeder Mensch früher oder später in Not gerät. Wenn Menschen nicht mehr helfen können, ist guter Rat teuer. An wen wendet man sich dann?

 

Also, der berühmte Psalm 23 beginnt mit dem "Guten Hirten". Aber in unserem Vers 5 wird das Thema variiert. Es geht plötzlich nicht mehr um Hirt und Herde, sondern um Wirt und Gast. Es gibt natürlich einen gemeinsamen Nenner; das ist die Fürsorge Gottes.

 

Unser Vers redet davon, bei Gott wie ein Gast sein zu dürfen und zuvorkommend bewirtet zu werden. Aber damit nicht genug: Gott bewirtet "im Angesicht meiner Feinde", so steht es da. Das heißt: im Angesicht von Gefahr und Übelwollen. Dieser Zusatz ist das Besondere. Wie ist es zu deuten?

 

Im ersten Moment erscheint die Vorstellung einer von Feinden umlauerten Tafelfreude schier unglaublich. Da bleibt einem doch glatt der Bissen im Halse stecken. Aber doch steht es so da. Unser Vers sagt, dass Gott gerade in Zeiten, in denen wir uns von Feinden umlauert wissen, als nobler Gastgeber aufwartet. Normalerweise würden wir in solcher Lage nicht in Ruhe pokulieren und schmausen, sondern eher mit dem Säbel rasseln und Vorsorge treffen, sich der elenden Feinde zu erwehren.

 

Der Psalmvers bezeugt eine aus der Welt gefallene Gegenlogik. Wir nennen sie das Wunder der Gelassenheit, zu der ein festes Gottvertrauen ermächtigt. In aller Seelenruhe sitzen und von den Speisen kosten, die Gott einem so vorsetzt, das nenne ich großartig! Während die Feinde geifern, mit der Hufe scharren und auf den nächsten Hinterhalt sinnen, zum Kelch greifen und ihn in einem Zuge leeren. Am besten noch auf ihr Wohl. Sich nur nicht dazu verführen lassen, es ihnen in ihrer niedrigen Gesinnung gleich zu tun.

 

Wohl dem, dessen Glaube zu solch einer heilsamen Verrücktheit fähig ist. Ich muss daran auch noch üben. Joseph hat übrigens auch sehr lange daran geübt. Aber schließlich, als seine Geschichte sich dem Ende zuneigte, da hatte er es begriffen. Denn als Summe seines Lebensweges sagt er voller Überraschung: "Die Menschen gedachten es böse zu machen, aber Gott machte es gut." Unser Gott erhält, nährt, erfreut, stärkt und kräftigt auf eine Weise, die wir im Moment nicht erfassen. Aber im Rückblick, da wird es offenbar werden, dass nichts, nicht eine Sekunde davon, sinnlos war.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019