Predigt am Sonntag Rogate, den 9. Mai 2021, Jesus Sprach 35, 16-22a

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Gott hilft dem Armen ohne Ansehen der Person und erhört das Gebet des Unterdrückten. Er verachtet das Flehen der Waisen nicht noch die Witwe, wenn sie ihre Klage erhebt. Laufen ihr nicht die Tränen die Wangen hinunter, und richtet sich ihr Schreien nicht gegen den, der die Tränen fließen lässt? Wer Gott dient, den nimmt er mit Wohlgefallen an, und sein Gebet reicht bis in die Wolken. Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost, und er lässt nicht nach, bis der Höchste sich seiner annimmt und den Gerechten ihr Recht zuspricht und Gericht hält. Jesus Sirach 35, 16-22a

 

Vom berühmten Albert Schweitzer erzählt man sich eine kleine Begebenheit vom Gebet. Sie reicht zurück in seine frühe Kindheit. Von außen betrachtet ist es nur ein kleines, harmloses Erlebnis. Aber es rührt an ein Geheimnis.

 

Er sei noch ein kleiner Junge gewesen, erzählt man sich. Sein Vater war damals Pfarrer in Günsbach, nahe Colmar, herrlich im Münstertal gelegen. Ich bin einmal dort gewesen.  Er hätte am Sonntag mit zur Kirche gemusst und sich da furchtbar gelangweilt, wie es Kindern im Gottesdienst eben so geht. Er hätte groß herumgeguckt. Da sei sein Blick zufällig auf eine alte Frau gefallen, irgendwo neben ihm in der Kirchenbank. Da sei er zurückgeprallt, denn so etwas hätte er noch nie gesehen. Dabei tat die Frau gar nichts besonderes, denn sie betete nur. Aber wie sie es tat, das hat den Jungen so tief beeindruckt, dass er es sein Leben lang nicht vergessen konnte. Sie betete mit einer Tiefe und Konzentration, so dass ihre Hingabe, Ernsthaftigkeit und Innigkeit ganz deutlich zu spüren war. Der kleine Junge hatte gemerkt, dass hier etwas Außergewöhnliches,  Besonderes und Erstaunliches passiert. Von diesem Moment an wusste der zappelige Junge, dass über dem Gebet ein Geheimnis waltet.

 

Die alte Frau, der der kleine Albert Schweitzer hier begegnet war, war vielleicht eine solche Witwe, von der das Buch Jesus Sirach spricht. Wer weiß, vielleicht liefen auch ihr die Tränen die Wangen hinunter, vielleicht schrie sie auch in ihrem Inneren über den Verlust ihres Mannes, das Geschick ihrer Kinder, das Unglück ihrer Einsamkeit oder Armut oder Not oder Krankheit? Wer will das wissen?

 

Witwen und Waisen - sie sind an vielen Orten im Alten Testament beispielhaft genannt für Menschen, die unverschuldet zu leiden haben. Sie sind in besonderer Weise dem dreisten Zugriff der Mächtigeren ausgesetzt, da sie ohne Schutz allein in der Welt stehen und auf sich zurückgeworfen sind. Es versteht sich, dass diese Zurücksetzung in früheren Jahrhunderten auch einen handfesten wirtschaftlichen und rechtlichen Hintergrund hatte. Aber "Witwen und Waisen" gibt es auch heute auch noch zuhauf; in gewisser Weise würde ich die vielen Erwachsenen und Kinder dazu zählen,  die Opfer tragischer Trennungen und Scheidungen geworden und auch schmerzlich auf sich zurückgeworfen sind. Wir haben sie beispielhaft vor Augen.

 

Die alte und stets neue Frage liegt nahe, wieso Gott nicht verhindert hat, dass es ihnen so elend im Leben ergehen muss. Wir haben bis heute keine überzeugende Antwort auf diese Frage gefunden. Ich weiß sie jedenfalls nicht. Aber ich vermute, ich glaube zu wissen, dass es unter diesen Verlassenen solche gibt, die die alles überragende Kraft des Gebetes schon entdeckt haben. Ja, sie sind es, die herausgefunden haben mögen, dass in der Verzweiflung der Einsamkeit und Not, in der sich unter den Menschen kein Helfer gefunden hat, sich das Gebet als unzerreißbares Kraftband Himmels und der Erden erweist. Denn Not lehrt beten, das steht fest. Das Gebet war ihre Rettung aus der Not. Das Gebet bleibt unsere Rettung, wenn wir in Nöte geraten. In fetten Zeiten leben wir eher gottlos.

 

Nun gibt es freilich einen sehr versuchlichen Gedanken, der sich gern und schnell in unser Hirn und Herz schleicht. Er ist sogar recht vernünftig und lautet: Wenn der allmächtige Gott alles weiß und alles tut, dann muss er auch von Ewigkeit her wissen, was er mir zugedenkt in guten und schweren Zeiten. Folglich ist das Gebet überflüssig, vielleicht sogar ein Selbstbetrug. Dann nützt es nichts und ist ganz sinnlos. Mann kann es einfach unterlassen. Was also soll der Schrei nützen, den wir mit der Witwe "gegen den, der die Tränen fließen lässt", richten? Wer ist der, der die Tränen fließen lässt? Es steht nicht ausdrücklich dabei. Was - schrecklich zu sagen -, wenn es der Gott mit dem steinernen Herzen und der ehernen Stirn ist?

 

Liebe Freunde, dieser Gedanke ist fatal, obwohl er nahe liegt. Er erblickt in Gott eine Schicksalsmacht, die mit ihrer eherner Stirn und seinem steinernem Herzen von Ewigkeit her disponiert und unverrückbar werden und vergehen lässt. Man hat einen solchen Gott einem Uhrmacher verglichen, der einst das Weltganze wie eine alte Taschenuhr aufzog und nun zuwartet, wie sie ohne weiteres Zutun bis zur letzten Sekunde abläuft. Einem solchen Irrglauben pflichten wir nicht bei. Nein, an einen Gott mit steinernem Herzen und eherner Stirn glauben wir schlicht nicht.

 

Die ganze biblische Verkündigung spricht dagegen. Auf jeder Seite der Heiligen Schriften wird uns klar gemacht: Gott ist nicht ein Gott der Notwendigkeit, Konsequenz oder Stringenz, sondern einer der Barmherzigkeit, Güte und Liebe. Sein Herz schlägt in Leidenschaft für uns Menschen, obwohl wir sind, wie wir sind. Er hat eine Schwäche für uns. Er hat uns doch nach seinem herrlichen Ebenbild geschaffen und sein Sinn ist uns in Sorge zugewandt. Unser Gott spricht: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig seid, kommt wieder, ich will euch hören! Hört ihr auch meine Stimme? Ich will euer Heil. Glaubt ihr das? Dann rufen wir Gott gegen Gott an, den lebendigen gegen den kalten. Das bedeutet beten. 

 

Liebe Freunde, wenn ihr betet, dann greift hoch! Bittet nicht um irgendeinen lächerlichen Schnickschnack. Belästigt Gott nicht mit Lappalien. Ich glaube, Gott mag nicht, "... wenn zu viel Irdisches an unserem Gebet klebt und es beschwert ...Wie sind doch die Menschen so oberflächlich, wenn sie von Gebetserhörung sprechen. Da meint man, ob das Gebet etwas sei oder nicht, das hänge davon ab, dass nun auf eine irdische Menschenbitte Gott in irgendeiner Weise in den Weltlauf eingreife, damit der vielleicht törichte Wunsch eines Menschen erhört werde. Nun sieh, das sind eitel kleine Menschengedanken ..." So der Pfarrer Albert Schweitzer später in einer Predigt. (Albert Schweitzer, in: Predigten 1898-1948. Werke aus dem Nachlass, München 2001, S. 587-589; Predigt am Sonntag, den 14. August 1904, St. Nicolai, Lk. 18.9-14, Pharisäer und Zöllner)

Er setzt den Gedanken so fort: Gott hat viel zu geben, weit mehr, als die Erfüllung irgendwelcher Einzelbedürftigkeiten. Denn er verheißt uns Vergebung, Heil und Leben. Darum sollen wir bitten. Solches wird uns alles zufallen. "Unser Herr hat gesagt: 'Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen' [Mt. 6,33]. Das gilt vor allem im Gebet. Gewiss, wir wissen es alle, was für eine Beruhigung und welcher Trost es ist, alle irdischen Sorgen auch vor Gott bringen zu dürfen, aber höher ist das Gebet, wo wir unser inneres Leben vor Gott bringen - höher und kräftiger, denn es wird immer erhört." (ibid.)

Das Gebet ist seinem Wesen nach Gespräch. So einen Gott haben wir, dass er uns dieses Gesprächs würdigt. Und dieses lebendige Hin und Her ergeht in Rede und Antwort. Es wird immer erhört.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019