"Wende dich zu mir und sei mir gnädig; denn ich bin einsam und elend." Ps 25,16
Am Abend des Gründonnerstag hatte ich ein paar Handgriffe in der Kirche zu tun. Um 18.00 Uhr läuteten die Glocken, wie an jedem Tag. Wenn es sich ergibt, singe ich die Vesper. Diesmal war ich ganz allein, denn Gottesdienste waren ja untersagt worden. Als ich fertig war, löschte ich die Kerzen und ging durch den Mittelgang nach draußen. Da war ein alter Mann in die Kirche gekommen und ich hatte es gar nicht gemerkt. Ich kannte ihn auch nicht. Als er mich kommen sah, stand er schnell auf und wandte sich zum Gehen. Ich sprach ihn irgendwie harmlos an. Er drehte sich um und antwortete nicht. Ich sah, dass er weinte. Dann sagte nur einen Satz: "Ich kann zu Ostern meine Enkel nicht sehen." Es war die böse Zeit der "Kontaktsperre". Er hätte auch eigentlich mit mir nicht reden dürfen. Es kommt mir dieser Wahnsinn heute schon ganz unwirklich vor.
Was Einsamkeit bedeutet, haben viele Menschen in den zurückliegenden Monaten schmerzlich erfahren. Dass Einsamkeit mit Elend zu tun hat, wie die Tageslosung sagt, ist nur zu wahr. Wer einmal Einsamkeit erlitten hat, weiß das auch.
Der Mensch ist auf Gemeinschaft hin angelegt. Das gilt auch für das Leben mit Gott. Ich bin überzeugt davon, dass der Mensch in den kritischen Momenten seines Lebens Gott braucht. Gott hilft, wenn Menschen nicht mehr helfen können.
Christus selbst hat es vorgemacht. Zu den verstörendsten Momenten der gesamten Bibel gehören das Gebet des Gekreuzigten: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Ps 22,1) Darüber ist viel geredet und geschrieben worden.
Ich bin überzeugt, dass dieses schmerzhafte Gebet Jesu nicht nur aus Vers 1 bestand. Er wird ihn ganz gebetet haben.
Die Grundaussage von Psalm 22 benennt die Gottesferne als den schlimmsten Schrecken, der uns überhaupt befallen kann. Aber er kontrastiert ihn wieder und wieder mit der Gewissheit der Nähe Gottes, schon in Vers 3-6:
"Du aber bis heilig / der du thronst über den Lobgesängen Israels.
Unsere Väter hofften auf dich; / und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.
Zu dir schrien sie und wurden errettet, / sie hofften auf dich und wurden nicht zuschanden."
Wenn uns die Einsamkeit befällt, werden wir uns an dieses Gebet unserer Väter und Mütter im Glauben, das auch das Gebet Jesu war, erinnern und es sprechen aus Herzensgrund.
Dann soll an uns einsamen und elenden Menschenkindern ein heilendes Wunder geschehen, ähnlich dem des Lahmen am Teich Betesda.
Der Kranke antwortete Jesus: "Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!" Joh 5,7-8