"Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder." 1 Kön 8, 39
Die Schriften des Philosophen Immanuel Kant gelten vielen Menschen als so kompliziert, dass sie fast nicht verstanden werden können. Unwillkürlich fragt sich der Leser, ob Kant selbst verstanden hat, was er da zu Papier brachte. Er soll einmal auf seinen schwierigen, verworrenen Denk- und Schreibstil angesprochen worden sein und mit dem ihm eigenen Witz geantwortet haben: Er hoffe, es fänden sich unter seinen Lesern Leute, die ihn besser verstünden als er selbst.
Das ist ein geistreiches Bonmot. Aber es ist vielleicht noch mehr als das, denn es enthält eine interessante Beobachtung über das Wesen des Menschen. Dass sie von einem der berühmtesten Aufklärer der Weltgeschichte stammt, spricht für sich selbst.
Ja, es gibt Momente oder Situationen, in denen wir uns so fremd sind, dass wir uns selbst nicht wiedererkennen. Das gehört zu den irritierenden Abgründigkeiten des menschlichen Herzens. Wir sollten genau wissen, was in uns los ist. Aber in uns schlummert alles mögliche. Wer ehrlich ist, weiß, dass sich helle und düstere Anteile finden. Nur in lichten Momenten wird uns das klar, meist erst im Nachhinein. "Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." (Röm 7, 19)
"Du allein kennst das Herz aller Menschenkinder." Diese Formulierung stammt mitten aus einem Gebet. Man erkennt es an der Anrede; dieses "du" ist natürlich Gott. Es ist ein kleiner Satz, eigentlich nur ein Einschub, aus dem großen Gebet des Königs Salomo anlässlich der Weihe des ersten Tempels von Jerusalem. Der König tritt vor den Altar. Er breitet seine Hände aus gen Himmel und betet eines der schönsten Gebete, das ich kenne. (vgl. 1. Kö 8, 22-61) Ich habe es gerade noch einmal durchgelesen. Was für ein König, der so für sein Volk zu Gott beten kann!
Gott kennt mich besser, als ich mich je kennen kann. Es hat etwas sehr Befreiendes, dass ich mich ihm gegenüber nicht verstellen muss. Er sieht durch die Masken der Menschen, die sie sich unablässig vor's Gesicht hängen - oder hängen müssen, oft geht es gar nicht ohne - hindurch. Er erkennt ohne inquisitorisches, anklagendes oder voyeuristisches Interesse das innerste Herz. Er schaut und spricht: "Ach Menschenkind, was ist nur los mit dir!" Und dann greift er ein, weil er es gut meint. Wie ein Vater, der das sinnlose Treiben seines Kindes durchschaut, den Kopf schüttelt und alles zum Guten kehrt. Er spricht ein heilsames Wort der Aufmunterung und des Trostes.
In diese Richtung geht der Gruß des Apostels, wenn er schreibt: "Unser Herr Jesus Christus, und Gott, unser Vater, der uns geliebt und uns einen ewigen Trost gegeben hat und eine gute Hoffnung durch Gnade, der tröste eure Herzen und stärke euch in allem guten Werk und Wort. 2 Thess 2, 16-17