Gedanken zur Tageslosung am Donnerstag, den 23. Juli 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR." Jes 43,10

 

Man stelle sich eine große und bedeutende Kirche vor mit allem, was das Herz begehrt: attraktive Verkündigungsmöglichkeiten, zahlreiche Veranstaltungen und motivierte Mitarbeiter. Man stelle sich weiter vor, dass diese Kirche durch eine besondere Schönheit, eine reiche Geschichte, eine edle Ausstattung und eine berühmte Orgel geprägt ist. Und schließlich stelle man sich noch vor, dass in dieser Kirche eine frostige Athmosphäre, den Mitarbeitern gegenüber ein Klima der Angst herrscht, dass sie möglichst gegeneinander ausgespielt, bei kleinsten Versehen mit Abmahnungen gebrandmarkt, und in Personalgesprächen nach Kräften gemobbt werden. Oh Schreck, oh Graus. Wie soll da das heilige Evangelium bezeugt werden, wenn die Sache so steht? Kann ein schlechter Baum guten Früchte bringen? Mutmaßlich lösen Angst und Missgunst die froh und frei machende Botschaft auf. Das große Wort Versöhnung muss so zu einer Lüge werden, auch wenn es von außen niemand merkt und alle lächeln.

 

"Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR". Das muss wahr bleiben.

 

Vor einigen Jahren besuchte mich ein Student der TU Dresden, den ich noch als Schüler aus meiner ersten Gemeinde in der Nähe von Leipzig kannte. Er war schon damals fromm gewesen, jetzt hatte es ihn in eine Freikirche verschlagen. Er war im Begriff sich für ein Studium in einer Bible School zu bewerben. Er bat mich um ein pfarramtliches Zeugnis und gab mir einige Zettel, die Fragen zu seiner Person enthielten. Ich habe alles so brav und wohlwollend ausgefüllt, wie ich irgend konnte. Da stieß ich auf die Frage: "Können Sie sich vorstellen, dass der Bewerber in der Straßenbahn fremde Menschen anspricht, um ihnen von Jesus zu erzählen?" Ich prallte etwas zurück. Ich stellte mir vor, man risse mich dergestalt aus meinen schönen Gedanken, während ich unschuldig in der Straßenbahn vor mich hindämmerte. Ich weiß, dass mich das ärgerte. Also schrieb ich in das Gutachten: "Hoffentlich nicht." Es gibt eine gut gemeinte Aufdringlichkeit in der Bezeugung des Glaubens, die nach meinem Dafürhalten so ziemlich das Gegenteil dessen bewirkt, was eigentlich beabsichtig ist.

 

"Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR." Das muss wahr bleiben.

 

Der christliche Glaube ist bei Licht betrachtet das Wichtigste, was der Mensch besitzen kann. Ich weiß, dass viele Menschen anders denken, aber sie haben Unrecht. Wer ein starkes Vertrauen in Gott setzen kann, dass er die Dinge führt, die mir entgleiten, dass er mir beisteht, wo meine Kräfte nicht reichen, dass er mich stärkt, wo ich verzweifle - wer oder was wäre sonst in der Lage dazu? Das allein ist schon so gut wie ein Gottesbeweis. Das für sich zu behalten, wäre ein Jammer.

 

Nun ist es freilich so, dass Zeugnis geben sich nicht auf Wörter beschränkt. Der ganze Mensch steht gibt Zeugnis für den Glauben in allem was er tut und unterlässt. Verrückt zu sagen, es kann Ausdruck des Zeugnisses für Gott sein, dass man schweigt und den Schnabel hält, wenn man nichts zu sagen hat oder das mit schlechten Wörtern wiederholt, was die "Welt" herausschwatzt. Am wenigsten gibt der ein Zeugnis von Gott, der glatte Worte zu geben versteht.

 

Gestern sagte mir ein Politiker, den ich bei einem Freund zufällig traf, aus seiner Sicht kranke die Kirche und ihre Verkündigung bis in die höchsten Etagen daran, dass sie eine Trittbrett-Botschaft traktiere, eine sich zeitnah gebende Aneinanderreihung von leeren Phrasen, die ihr in ihrer inhaltslosen Formelhaftigkeit einfach von niemandem mehr abgenommen werden. Sie habe auf diese Weise einfach nichts zu sagen. Es hat mich sehr geschmerzt. Ich habe geschwiegen, weil mir darauf nichts mehr einfallen wollte.

 

"Ihr seid meine Zeugen, spricht der HERR". Sammeln wir uns neu. Überlegen wir, wie wir mit unserem Tun und Lassen, Reden und Schweigen, mit unserem ganzen Leben das weitergeben, was uns wirklich wichtig ist: das heilige Evangelium. Und dann gilt es ein Neues bei unseren Kindern und Kindeskindern und den vielen Menschen, die von Christus noch nie gehört haben: "Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur." Mk 16,15

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019