Predigt am Ewigkeitssonntag, den 22. November 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. 2 Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. 3 Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; 4 und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. 5 Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! 6 Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen" geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. 7 Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein. Off 21,1-7

 

Es gibt Menschen, die gleichen Sisyphos, dem tragischen Helden der griechischen Mythologie. Sein Schicksal ist es, im Totenreich einen Felsblock mit aller Kraft und Mühe auf einen Berg zu wälzen, der ihm jedes Mal, kurz bevor er den Gipfel erreicht hat, entgleitet. In Ewigkeit muss er schwitzend und ächzend, unter Aufbietung aller seiner Kräfte wieder von vorn beginnen. Das ist das absurde Schicksal des Sisiphos. Albert Camus hat ihn zum Titelhelden eines berühmten Büchleins gemacht. Er mein, das Schicksal des Menschen sei absurd; der Mensch als Mensch gleiche dem Sysyphos.

 

"Das Absurde kann jeden beliebigen Menschen an jeder beliebigen Straßenecke anspringen", sagt er. Die Absurdität des Daseins, sagt er, entspringe einer Spannung. Jeder Mensch suche einen Lebenssinn.  Aber er finde ihn nicht, da er in einer total sinnleeren Welt lebe. Was tun? Die Leistung des Menschen, sagt er, bestehe darin, trotzdem und gegen jede Vernunft weiterzuleben. Mit dem Absurden müsse sich der Mensch abfinden und es zugleich unablässig und bis zum letzten Atemzug heroisch niederkämpfen.

 

Oft denke ich, wir leben in solch einer absurden Zeit. Täusche ich mich? Ist Albert Camus zum Propheten unserer schrecklichen Moderne geworden? Die Anstrengungen der Menschen erscheinen mir schier übermenschlich. (Es gibt scheinbar auch einen Corona-Sisyphos; wie sie sich alle mühen!) Wenn sich die Menschen eine Pause gönnen, dann nur für einen hastigen, überstürzten und rauschhaften Genuss, für den es eigentlich gar keine Zeit gibt und der nur dazu dient, sich erneut in die Anstrengung hineinzustürzen, bis man irgendwann tot umfällt. Das ist so absurd!

 

In einer solchen Situation ist es scheinbar auch schwer geworden, eine Botschaft zu beherzigen, wie sie im Buch der Offenbarung formuliert und überliefert wird. Was ist geschehen, dass das die Menschen nicht mehr hören wollen oder können? Dabei sind es doch so herrliche Worte des Trostes und des Heiles.

 

Wir wollen heute Morgen für eine Sekunde den Sysyphos abstreifen und hören, was die Offenbarung des Johannes zu sagen hat. Scheinbar bedarf es einer uns von außen her zugesprochenen Offenbarung. Denn aus uns selbst können wir dergleichen nicht wissen oder formulieren.

 

In immer neuen Anläufen wird formuliert, dass das, was wir vor Augen haben, nicht alles ist. Das Heil der Gottesunmittelbarkeit steht bereit. Es wird ganz gewiß sein, sagt Johannes. Das unendlich anstrengende, verzehrenden und aufreibende Menschendasein, das letztlich in den Tod führt, verdient nicht, die Summe des Seins genannt zu werden. Nein, nein und aber nein. Sondern so heißt es: "... und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!"

 

"... und der Tod wird nicht mehr sein". Was für eine kühne Rede am Totensonntag. Sie ist ein Angebot. Was wird angeboten? Nichts weniger als der Sieg Gottes über den Tod. Ob dieses Angebot angenommen wird oder in den Wind geschlagen wird, darin unterscheidet sich der Glaube vom Unglauben. Wer dieses Angebot im Glauben annimmt, hat die Hoffnung gewonnen. (vgl. dazu und auch im folgenden E. Jüngel, Tod, S. 145ff.)

 

Wenn nun der Gläubige bedroht wird vom Tod (und wir werden alle von ihm bedroht), wird er sofort sagen: Halt! Da war doch 'was! Gott hat doch über den Tod gesiegt! In Christus, dem Gekreuzigten, Gestorbenen, Begrabenen, der aber der Lebendige ist, hat er das doch schon bewiesen! Hier liegt ja eine grundsätzliche Umkehrung vor!

 

Martin Luther bringt es auf den Punkt: "Mitten im Leben (sind wir) im Tod. Kehr's um: mitten im Tod sind wir im Leben. So spricht, so glaubt der Christ." (zit. bei Jüngel, Tod, Gütersloh 1993, S. 147) Der Luther treibt den Gedanken auf die Spitze: Wenn das Leben den Sieg über den Tod behält, dann wird der Gläubige nicht mehr vom Tode bedroht, sondern umgekehrt: Der Gläubige bedroht den Tod. Er ist frei. Er glaubt dem Tod nicht, dass er Herr sei. Er lacht ihm ins Gesicht und sagt: Der Tod Christi ist der Tod des Todes!

 

Wir machen uns heute, am Totensonntag, stark für den Osterglauben. Der nimmt dem Tode die Macht und spricht: Wie kannst du, Tod, dich aufspielen, als trügest du den Sieg davon! Ich gehöre zu Christus. Der ist auch gestorben, aber er lebt. Was bildest du dir ein, du unverschämter Kerl, mich so zu ängstigen! Wirtschafte, soviel du willst, ich glaube deiner Botschaft nicht! Du hast ausgespielt. Du hast abgewirtschaftet. Gegen das Versprechen meines Gottes bist du ein hilfloses, lächerliches, armseliges, peinliches, klapperiges, kraftloses, hohles Gerippe! Pack dich! Es ist aus mit dir!

 

Denn "... der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu!"

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019