Predigt am Sonntag Judika, den 21. März 2021

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Alle meine Getreuen verabscheuen mich, und die ich lieb hatte, haben sich gegen mich gewandt. Mein Gebein hängt nur noch an Haut und Fleisch, und nur das nackte Leben brachte ich davon. Erbarmt euch über mich, erbarmt euch, ihr meine Freunde; denn die Hand Gottes hat mich getroffen! Warum verfolgt ihr mich wie Gott und könnt nicht satt werden von meinem Fleisch? Ach dass meine Reden aufgeschrieben würden! Ach dass sie aufgezeichnet würden als Inschrift, mit einem eisernen Griffel und mit Blei für immer in einen Felsen gehauen! Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt, und als der Letzte wird er über dem Staub sich erheben. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen. Ich selbst werde ihn sehen, meine Augen werden ihn schauen und kein Fremder. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust. Hiob 19,19-27

 

Ich erinnere mich, einmal einen originellen Gedanken des Schriftstellers Botho Strauß über die Werke der Dichtkunst gehört zu haben. Wenn ich mich recht entsinne, vertritt er die Auffassung, dass nicht das Leben die Werke der Dichtkunst und des Geistes hervorbringt, sondern umgekehrt. Es sei die Literatur, die dem ernsten, wachen und aufmerksamen Leser zu Antworten auf seine brennenden Lebensfragen verhelfe, ihn leite und führe. Gleich, als ich das hörte, dachte ich, dass unser Lesen der Heiligen Schriften in dieser Weise geschieht.

 

Ich schicke das vorweg, weil gerade das berühmte Buch Hiob mit seiner Frage, warum auch der Gerechte unschuldig leiden muss, eine unserer Grundfragen aufnimmt. Gerade in einer Zeit, in der der Deutsche Bundestag eine "epidemische Lage von nationaler Tragweite" meint festschreiben zu sollen, stellt sich für eine immer größer werdende Zahl von Menschen diese Frage. Aber das ist nur ein Aspekt menschlichen Leidens. Ein Leiden will man verhindern und schafft darüber tausend neue.

 

Was heißt das? Wir stehen immerzu vor schwierigen Wechselfällen in unserem Leben. Diese Fragen gleicht einer Rätselnuss. Wir mühen uns, können sie aber nicht knacken. Wir stoßen recht schnell an Grenzen. Das Leben schickt sich nicht in unseren Wunsch und Willen. Folglich hadern wir. Wir gefallen uns in unserem Klagen. Wir finden es so wichtig, dass wir meinen, es gehöre sich in Stein gemeißelt oder in Erz gegossen. Es geht uns wie Hiob.

 

Ich werde den Eindruck nicht los, dass sich Hiob ein wenig in seiner Klage gefällt, sich mindestens sehr wichtig nimmt. Warum sonst sollte er wünschen, dass sie in Stein und Blei verewigt würde? Doch nur, auf dass sie ewig erhalten bliebe. Er wirft Gott sein Elend hin und fordert ihn auf, es zu ändern. Er tut das, was wir in unseren Gebeten auch tun. Wir bitten Gott, weil wir etwas von ihm brauchen: Gesundheit, Glück, Gelingen, Geld und was nicht alles außerdem. Wir sind bedürftig und gefallen uns gebetsweise in unserer Bedürftigkeit.

 

Es gibt ein Problem dabei. Es ist nämlich nicht ausgemacht, ob unsere Bedürftigkeit je gestillt werden könnte. Wann wäre auch mein Glück groß genug, so dass ich nicht noch mehr davon gebrauchen könnte? Wann hätte ich je ausreichend Geld und Gut? Wann wäre ich so gesund an Leib und Seele, dass ich ohne jeden Schmerz und Kummer leben könnte? Wisst ihr, Gott gegenüber seine Bedürftigkeit herauszustreichen, hat etwas Unersättliches. Das mag ich mir vom Hiob nicht abgucken.

 

Doch sehen wir genau hin. Es wird interessant. Den menschlichen Bedürftigkeits-Impuls kennt Hiob auch - aber er stockt darüber. Mir scheint, als würde ihm mitten in der Rede klar, dass das "ich brauche" und "ich will" nicht richtig ist.

 

Es ist ein kleines Wörtchen, im Hebräischen nur eine kleiner Buchstabe, mit dem er sich selbst ins Wort fällt. Diese hebräische Buchstabe erschein im Schriftbild als ein kleiner Krückstock, mehr nicht. Man nennt ihn Waw, hier zu übersetzen mit "aber". Dieser kleine Krückstock wird ihm zu einem "Großen Aber".

 

"Aber ich weiß, dass mein Erlöser lebt." Das "Große Aber" bewirkt, dass Hiob von sich und seinem Elend absehen kann. Unglück, Leid und Schmerz sind zwar immer noch da, denn sind nicht einfach wegzublasen. Jedoch gestattet ihm das "Große Aber" sein Leben neu auszurichten. Es gibt eine Antwort auf die Frage: Was ist über den Schmerz und das Leid hinaus unverzichtbar wahr? 

 

Wahr ist zunächst, dass wir nicht gefragt wurden, ob wir geboren werden wollten. Wir finden uns vor. Weder Ort noch Zeit noch Umstände unserer Geburt sind in unsere Macht gestellt. Wahr ist also, dass Gott uns in dieses Leben hineingeworfen hat, einfach so.

 

Wahr ist weiterhin, dass wir uns im Leben bewähren sollten. Aus sich selbst heraus hat unser Leben keinen Sinn und Zweck. Es hat ihn, weil er ihm von außen her zukommt. Wir gewinnen ihn, wenn wir unser Leben auf Gott hin begreifen. Gott verleiht unserem Leben Sinn, weil er uns braucht. Wir sind auf Gott hin - oder wir sind gar nicht. Sind wir nicht auf ihn hin, fallen wir dem Nichts in seiner Nichtigkeit anheim. Dann ist alles verloren.

 

"Aber mein Geschick ist mir zu schwer", mag mancher einwenden. "Ich kann mir nicht vorstellen, wie solch ein Leben auf Gott hin begriffen werden soll." Lieber Freund, diesem Einwand liegt ein Irrtum zugrunde. Hast du nicht bedacht, dass es nicht darum geht, was du alles brauchst, sondern umgekehrt, dass es darum geht, dass Gott dich braucht? Und dass ein Segen darauf liegt, wenn wahr wird, was du im Vaterunser betest: "Dein Wille geschehe!"? Und dass das mit dem "Großen Aber" zu tun hat, das die Gewissheit des lebendigen Erlösers gegen allen Kleinglauben stellt?

 

Hier blitzt das Geheimnis des Glaubens auf. Gott verleihe uns, dass, wenn es so weit ist, wir uns das vom Hiob abschauen könnten. Dann wäre die uralte Dichtung nicht umsonst erdacht worden, sondern hätte auch bei uns eine Kraft entfaltet, die zum Leben hilft.

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019