Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden. 2 Der kam zu Jesu bei der Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer, von Gott kommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. 3 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. 4 Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? 5 Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. 6 Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. 7 Laß dich's nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. 8 Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fähret. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. 9Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen?10 Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht? 11 Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wir reden, was wir wissen, und zeugen, was wir gesehen haben, und ihr nehmet unser Zeugnis nicht an. 12 Glaubt ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Joh 3,1-12
Vor vielen Jahren hörte ich einen Vortrag von einem Literaturwissenschaftler. Prof. Klaus Stiebert war zu DDR-Zeiten wegen seiner Kritik am sozialistischen Staatswesen in einer eigens für ihn geschaffenen Stelle bei der Kirche angestellt. Fast alles, was er damals sagte, habe ich vergessen, außer der kleinen Einleitung. Eines von zwei unsterblich großen Themen von archaischer Wucht, das die deutsche Dichtkunst der Weltliteratur beigefügt habe, sei die Gestalt des Dr. Faust. In zahllosen Bearbeitungen wirke das bohrende Suchen nach dem Grund aller Dinge, das "faustische Prinzip" bis auf den heutigen Tag fort.
Jeder kennt die Goethische Bearbeitung der Figur des Dr. Faust, vielleicht aus der Schule. Die erste Szene "Habe nun, ach ..." ist überschrieben mit "Nacht". In einem nächtliche Monolog fragt sich der Dr. Faust, "Ob mir durch Geistes Kraft und Mund / Nicht manch Geheimnis würde kund / Dass ich erkenne, was die Welt / Im Innersten zusammenhält usw." Dann ruft er einen Geist herbei, dass er ihm helfe. Und was für einen. Die Deutschen und Mephisto - eine üble Geschichte in vielen Kapiteln bis in die Gegenwart.
Einst aber gab es Leute, die nach Christus fragten. Gibt es die heute noch? Der reiche und angesehene Nikodemus jedenfalls gehört zu ihnen. Er war stutzig geworden, als er von "Zeichen" reden hörte, die Christus tat. All diese "Zeichen", so lautet das Alarmwort im Johannesevangelium. Es erzählt sieben dieser "Zeichen" ganz ausführlich und endet mit dem Hinweis: "Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese sind aber aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen." (Joh 20,30-31) Ich glaube, Christus hat nie damit aufgehört, "Zeichen" zu tun.
Warum wird so viel Wert auf die "Zeichen" gelegt? Weil es etwas bezeichnen, auf etwas hinweisen: auf das Wunder des Lebens. Man könnte sagen, sie verheißen Leben, echtes, wahres und gelingendes Leben inmitten von Bedrohung, Mangel und Verlust.
Die Gestalt des Nikodemus liegt im Halbdunkel. Nur dreimal taucht sie im Johannesevangelium auf. Neben dem Gespräch in der Nacht gibt es eine kurze Notiz, dass er vor dem Rat Partei für Jesus ergriff, zaghaft genug. Und er ist es schließlich, der eine beträchtliche Menge von Myrre und Aloe gibt für die Salbung Jesu.
Aber Nikodemus fragt nach Christus. Ja, einst gab es Leute, die nach Christus fragten. Mitten in der Nacht tut er das. Er liegt schlaflos, weil er nachdenken muss. Es hat sich eine Unruhe seiner bemächtigt, so dass er denkt: "Ich muss ihn sprechen." So geht er durch die dunklen Gassen der Stadt, um Christus zu finden.
Warum tut er das? Ich kann mir nur vorstellen, dass es die Sehnsucht ist. Es muss die Sehnsucht nach dem Wunder des Lebens sein. "Ich bin in Reichtum und Ansehen", mag er gedacht haben, "aber das Wunder des guten, heilen Lebens, wovon dieser Mann Zeichen gibt, das habe ich nicht ergründen können."
Christus, als er ihn findet, antwortet ihm ganz einfach und überraschend: "Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen."
Sein Irrtum ist sympathisch: Zurück in den Mutterleib! Ach, die Zeit zurückdrehen können! Noch einmal von vorn anfangen! Ob es anders würde, besser und ohne Leere des Daseins? Oder würde alles genauso kommen? Kann man wollen, dass man ein anderer sei und alles ganz anders verliefe? Was, wenn es wieder auf dasselbe hinausliefe, wenn das, was misslungen ist, wieder danebenginge, wie wohl zu erwarten wäre? Dann noch einen Versuch und noch einen und noch einen? Besteht denn die Fülle des Lebens in der ewigen Wiederkehr desselben?
Nein, sagt Jesus, glaube das nicht und wünsche es dir nicht. Denn du entwertest dein gelebtes Leben mit diesen fruchtlosen Phantasien. Die Fülle des Lebens liegt nicht im Zurückgehen oder Zurückblicken.
Christus sagt, dass die Fülle des Lebens im "Reich Gottes" da sei. "Wenn jemand nicht geboren wird aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen." Das, was Christus das "Reich Gottes" nennt, ist der Fluchtpunkt der Wiedergeburt. Sie dient dazu, Eingang in dieses "Reich" zu gewinnen. "Wasser und Geist" - das spielt natürlich auf das sichtbare Zeichen der Heiligen Taufe an. Hier
Handelt es sich um ein Parallelreich, das dem irdischen entgegensteht, so dass man aus ihm in ein über- oder unterirdisches fliehen müsste? Hinaus aus diesem Jammertal? Manchmal denkt man: Das wäre die Lösung bei all dem Durcheinander.
Aber es ist ein Trugschluss und gerade nicht der Weg, den Gott wählt. Denn Christus hat sich nicht aus dieser Welt verabschiedet. Er hat sich nicht verdrückt, als es für ihn mühsam und gefährlich wurde. Im Gegenteil. "Bleiben" ist der Grundzug seines Wesens. Denn wenn er aus der Welt ging, dann immer nur, um in Herrlichkeit wieder zu kommen, zuletzt als der Auferstandene und als der Tröster.
Wie sollte ich nicht in der Welt bleiben wollen, wo er doch in ihr ist? Wieso sollte ich nicht mitten in der Welt durch sein lebendiges Wort meinen Stand haben? Gott, der die Welt so sehr geliebt hat, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit wir im Glauben das ewige Leben haben, hat sein unsichtbares "Reich" in der fragilen Wirklichkeit unter uns aufgerichtet.
Das ist ein bleibender Grund zur Lebensfreude! Lasst sie euch nicht nehmen, gerade dann nicht, wenn euch wieder ärgerliche Anmaßungen, Lügen und Verdrehungen entgegenschlagen. In der Strahlkraft des "Reiches Gottes" werden sie gerichtet. Hier haben sie keinen Bestand.