"Der HERR wird's vollenden um meinetwillen." Ps 138,8
Vor Jahren hatte ich einen alten Herrn zu beerdigen. Ich kannte ihn gut. Er war gebildet und kenntnisreich, voller Geschichten und origineller Gedanken, dabei ein Mann von Welt. Er war wie ein Vulkan. Hatte er gute Laune, sprang er auf und holte eines seiner interessanten "Altertümer" herbei, die er mir vorzeigte. Es war eine Freude, mit ihm zu plaudern. Ich fragte ihn gelegentlich, ob er denn seine vielen Erinnerungen schon einmal aufgeschrieben habe, da sie gar zu interessant seien. Ja, pflegte er zu sagen, er hätte auch schon darüber nachgedacht. Eines Tages erzählte er mir, er habe einen jungen Mann angestellt, der ihn befrage und seine Lebensgeschichte zu Papier bringe.
Die Altersdemenz war schleichend gekommen. Er hat sie lange meisterlich verborgen. Ich merkte es erst, als ich einmal beim Weggehen allerlei Erinnerungszettel an seiner Wohnungstüre entdeckte, z. B. "Schlüssel mitnehmen!", "Portemonnaie!" und "Fahrschein!" Später wurde mir von Angehörigen erzählt, dass er sich häufig ausgeschlossen und mit Hausschuhen durch die Straßen geirrt sei. Er konnte nicht allein bleiben und zog in ein Heim.
Dort habe ich ihn auch mehrfach besucht. Anfangs war er wie getrieben, dem jungen Mann noch seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen. Er wartete ungeduldig, dass er käme. Wenn er aber da war, fiel ihm nichts mehr ein. Seine Erinnerungen verwischten sich, die Gedanken verebbten. Bald war es ihm nicht mehr möglich, einen begonnenen Satz zu beenden. Er brach ihn ab, sah kurz vor sich hin und sagte dann unvermittelt: "Ja, so war das." Das große Buch seiner Lebensgeschichte kam über wenige Seiten nicht hinaus. Es blieb ein unvollendetes Stückwerk.
"Der HERR wird's vollenden", heißt es in der Tageslosung. Was wir hier beginnen, bringen wir nur zu einem vorläufigen Ende - wenn es gut geht. Wann wären wir mit irgendetwas erschöpfend fertig geworden? "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn's hoch kommt, so sind's achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon." (Ps 90,10)
Manch einen mag diese Erfahrung ängstigen. Aber das soll sie nicht. Das Leben und sein Glück ruhen nicht auf unseren Schultern. Ein anderer sorgt dafür und führt es glücklich hinaus. Das ist unsere Freude und unser Trost.
Die Worte unserer Tageslosung wollen uns die rastlose Unruhe nehmen, noch das und das in's Sein zu zwingen. Es ist nicht schlimm, sagt die Tageslosung, wenn Euer Tun Stückwerk bleibt. Vielleicht soll es gar nicht fertig werden, weil es etwas Wichtigeres gibt, dem du dich jetzt zuwenden sollst?
Die Vollendung aller Dinge kommt dann schon noch zurecht. Paulus schreibt: "Ich bin darin guter Zuversicht, dass der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird's auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu." Phil 1,6