"Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht, weil man täglich zu mir sagt: Wo ist nun dein Gott?" Ps 42,4
"Wann hast du das letzte Mal geweint?" So bin ich einmal von einem Freund gefragt worden. Ich konnte mich so schnell gar nicht erinnern. Ich habe damals etwas geschummelt, denn die Frage war mir unangenehm. So habe ich sie schnell zurückgegeben: "Und wann hast du das letzte Mal geweint?" Mein Freund antwortete nach einigem Zögern: "Ja, es ist selten geworden."
Es gibt sogar eine wissenschaftliche Tränenkunde. Das Fachwort heißt Dakryologie. Das klingt sehr gelehrt. Und wirklich, es gibt eine Menge zu erforschen um das Phänomen der menschlichen Tränen. Ich finde sehr bemerkenswert, dass man bisher davon aus geht, dass der Mensch das einzige Lebewesen sei, bei dem das Weinen Ausdruck einer Gefühlslage ist. Von daher kann man sagen, das Weinen ist etwas typisch Menschliches. Es zeichnet uns aus.
Tränen sprechen keine eindeutige Sprache, sagt man. Sie fließen bei Schmerz, bei Traurigkeit, bei Wut, bei Enttäuschung und, jeder weiß es, bei großer Freude. Letzteres scheidet eindeutig aus für unseren Vers. Aber die anderen Motive kommen schon in Frage.
Welcher Art sind die Tränen, die angesichts der spöttischen und hämischen Frage "Wo ist nun dein Gott?" gemeint sein mögen? Wut über die Unverschämtheit solcher Frage? Trauer über die Verlegenheit, wenn man um eine Antwort verlegen ist? Schmerz, weil es doch weh tut, den überzeugenden Erweis der Gegenwart Gottes schuldig zu bleiben? Enttäuschung, weil sie einen elementaren Dissens mit dem Frager anzeigt? Der Vers unserer Tageslosung bleibt offen für all diese Deutungen.
Die Psychologen sagen, dass Tränen immer Ausdruck von Hilflosigkeit und Überforderung sind. Wer weint, befindet sich in einer Situation, die er nicht unter Kontrolle hat. Ja, da ist bestimmt etwas dran.
Wir haben unser Leben nicht immer unter Kontrolle. Gott wollte nicht, dass wir unser Leben immer unter Kontrolle haben. Er hat in uns geschaffen mit einer ganz weichen Seite. Ich kann mir vorstellen, dass er uns mit dieser weichen Seite geschaffen hat, damit wir für die Barmherzigkeit empfänglich bleiben. Könnten wir nicht weinen, hätten wir ein steinernes Herz voller Härte. Wir könnten nicht miteinander leben.
Doch wir dürfen Menschen sein. Das bedeutet auch, dass wir in unserer Gottessehnsucht nach Trost und Frieden zuweilen traurig, enttäuscht, wütend oder ängstlich sind. Dann sind die Tränen nicht weit. Sie dürfen sein. Wir brauchen Gott. Wir leiden darunter, wenn er uns fehlt. Er offenbart sich in unsere Ohnmacht hinein.
"Tröster" ist ein alter Ehrenname des Heiligen Geistes. Ihn bitten wir herbei. Er sei unsere Stärke in aller Ohnmacht. Dem Apostel Paulus ging es nicht anders. Gott sprach zu ihm: "Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig." 2. Kor 12,9