"Wie groß sind Gottes Zeichen und wie mächtig seine Wunder! Sein Reich ist ein ewiges Reich, und seine Herrschaft währet für und für." Dan 3,33
Als ich vor zwanzig Jahren Pfarrer wurde, hatte ich manchmal Menschen zu begraben, die noch vor 1918 geboren worden waren. Wenn ich dann zum Bestattungsgespräch mit ihren Nachkommen zusammen saß, die mir die alten Urkunden und Dokumente aus der Kaiserzeit, der Weimarer Republik, dem Dritten Reich und der DDR zeigten, war das, als blätterte man in einem Gesichtsbuch Seite um Seite, Kapitel um Kapitel zurück, durch das ganze verrückte 20. Jahrhundert hindurch. All diese Reiche hatte der verstorbene Mensch durchlebt und überlebt. Zuletzt war er in der Bundesrepublik angelangt, mit ihrem Hang zur Europäischen Union.
"Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen." So lautet der Titel eines Buches von David Engels, Professor für römische Geschichte in Brüssel. Er sitzt also an der Quelle und kennt die EU-Funktionäre wahrscheinlich recht gut. Sein Fazit lautet: „Der Europäer scheint also, wie der Römer der späten Republik, zunehmend vom Gegensatz zwischen seinen vielschichtigen Traditionen, seinen Staaten und seiner Geschichte wie auch den immer drückenderen Zielvorgaben und ihres tief greifenden Einflusses auf die Gestalt seiner Gesellschaft verwirrt und verloren.“ (David Engels, Auf dem Weg ins Imperium, Berlin 2013, S. 428)
"Verwirrt und verloren" in einer Weltanschauung mit selbstvergessenen rationalistischen, universalistischen und relativistischen Zügen, die nach innen alle Bindungen zerstört und zugleich die ganze Welt nach ihrem Bild gestalten möchte - ich fürchte, er hat in vielerlei Hinsicht Recht. Wie stehen die Aussichten auf eine "Renovatio Europae" ("Erneuerung Europas", so lautet der Titel eines Aufsatzbandes, den Engels 2019 herausgegeben hat)? Das könnte ja nur als Rückbesinnung auf den christlichen Glauben und die antiken Tugenden geschehen. Davon sind die EU-Staaten weiter weg als je. Es müssten Zeichen und Wunder geschehen
Das alles ist eine ziemlich trostlose, entmutigende Lektüre. Ob es einen Ausweg aus der sich abzeichnenden Entwicklung gibt, muss dahin gestellt bleiben. Dass die Reiche dieser Erde wieder und wieder erschüttert werden, untergehen und durch andere ersetzt werden, wird sich schwerlich ändern lassen. "Wir haben hier keine bleibende Stadt." (Hebr 13,14)
Verlassen wir die Ebene der weltlichen Reiche und Imperien für einen Augenblick. Christus ist ein Meister gewesen in seiner Rede von einem anderen Reich, das nicht von dieser Welt ist, mit ihm aber in dieser Welt schon angebrochen ist. Er nennt es die "Königsherrschaft Gottes"; in unseren Bibeln steht regelmäßig das "Reich Gottes". Das ist eine ganz zentrale Verkündigung Jesu; in vielen Gleichnissen (z. B. vom Senfkorn, von der Perle im Acker, vom verlorenen Sohn usw.) hat er dieses geheimnisvolle, mit Worten so schwer fassliche Reich ausgemalt. Christen leben im Glauben schon in ihm, obwohl wir durch die weltlichen Reiche immer wieder geknechtet und geknebelt werden mögen. Das ist ein Geheimnis!
Für uns Christen bleibt dieses Reich Gottes Fluchtpunkt unseres Weges auf dieser Welt und zugleich Quelle der Kraft für diesen Weg. Ich bitte darum, nicht missverstanden zu werden, als handele es sich um eine Vertröstung in ein Jenseits, das uns der Verantwortung für das irdische Reich der Gegenwart enthebt. Das wäre ganz falsch.
Das Reich Gottes, wie es Christus verkündigt hat, bleibt für uns Christen immer der Bezugspunkt für die Sicht auf die Gegenwart und das weltliche Reich, in dem wir gerade leben und Verantwortung übernehmen. Unsere Stärke besteht aber genau darin, dass wir um die Vorläufigkeit und Bedingtheit aller menschlichen Reiche wissen, die auch nur von Menschen regiert werden, stets eher schlecht als recht. "Verlasst euch nicht auf Fürsten; sie sind Menschen, die können ja nicht helfen." Ps 146,3
Es ist unsere vornehmste politische Aufgabe, im Wissen um das Reich Gottes, in dem wir schon leben, die gottlose Wirklichkeit mit eben diesem Reich zu konfrontieren, von daher in ihm zu wirken, seine kraftvolle Wirklichkeit gegen den Verfall und die Dekadenz zu wenden und den mannigfachen Todestrieben der irdischen Wirklichkeit mit der ewigen Lebendigkeit des Reiches Gottes zu begegnen.
"Weil wir ein Reich empfangen, das nicht erschüttert wird, lasst uns dankbar sein und so Gott dienen." Hebr 12,28