"Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist." Jes 40,2
Jeder will frei leben. Nur den wenigsten gelingt es. Oft ist dem Menschen noch nicht einmal klar, was das bedeutet, frei zu sein. Fest steht jedenfalls, wer frei ist, sollte eine Lippe riskieren dürfen. Er braucht sich keiner freiwilligen Selbstzensur zu unterwerfen. Er muss auch nicht fortwährend tun, wozu fremder Wille ihn nötigt. Er muss vor allem nicht denken, was die brachiale und unverschämte Dampfwalze einer so genannten Mehrheitsmeinung (die allzu oft gar nicht die Mehrheit ist, sondern nur so tut) von ihm fordert. Der Freie widersteht dem Gruppenzwang. In Knechtschaft zu leben ist Ausdruck von Schuld.
Schon lange warte ich auf eine Gelegenheit, in diesem Jahr an die vielleicht berühmteste Lutherschrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" zu erinnern. Die Tageslosung, die das überaus heikle und verwirrende Thema der Freiheit so prominent zum Thema hat, legt ja nahe, an diese Schrift zu erinnern. Luthers berühmte Freiheitsschrift hat ein Jubiläum in diesem Jahr. Sie erschien 1520. Luther hat sie höchstwahrscheinlich sogar im Juni geschrieben.
Meine lieben Leser, da müssen wir uns gleichsam innerlich erheben und eine Gedenkminute abhalten mit großem Dankgebet und Halleluja (achtstimmig, doppelchörig, mit Trompeten und großem Schlagwerk) für den Schöpfer aller Dinge, dass er der Christenheit vor glatt 500 Jahren diese kleine, geniale, gedankenreiche, frappierende und gar nicht so einfach zu lesende Schrift geschenkt hat! Die Leichtigkeit des Titels täuscht etwas darüber hinweg, dass sie eine ziemlich anspruchsvolle Lektüre darstellt.
Das erkennt man gleich daran, dass er zu Beginn folgende krasse Thesen gegeneinander setzt:
"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan.
Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan."
Wie soll das zusammengehen? Das ist ja ein kompletter Widerspruch.
Luther löst ihn, indem er zunächst den "inwendigen" Menschen, d. h. die Seele des Menschen betrachtet. Er hält fest: Kein äußerliches Ding kann den Menschen frei und gerecht machen, kein Hunger, keine Völlerei, kein Durst, keine Trunkenheit, kein Aktivismus, keine Trägheit. Nichts von alledem reicht nicht bis an die Seele heran, so dass sie dadurch frei würde. Man mühe sich ab, wie man will. Sie kann nur frei werden durch das Evangelium und Wort Gottes, das keines menschlichen Werkes bedarf. Christus spricht den inwendigen Menschen frei, weil er im "fröhlichen Wechsel" die menschliche Schuld auf sich nimmt. Im Glauben eignet sich der Mensch umgekehrt die Befreiungstat Jesu an, der ja "Sünd', Teufel, Tod und Hölle" in Kreuz und Auferstehung endgültig besiegt hat. "Das ist die christliche Freiheit: Der Glaube allein." Der Mensch ist also im Glauben frei. Diese Freiheit ist ein Geschenk Gottes.
Danach betrachtet er den "alten und äußerlichen" Menschen, der aus Fleisch und Blut ist, das handelnde Individuum im täglichen Leben. Mit diesem geschieht etwas Interessantes: Er hat, nachdem er im Glauben die Freiheit gewonnen hat, es nicht mehr nötig, mit vielen guten Werken aller Art unter Beweis zu stellen, dass er ein feiner Kerl ist. Sondern umgekehrt tut er das Richtige "aus freier Liebe umsonst, Gott zu Gefallen". Es ergibt sich für ihn ganz von selbst. Er ist nicht frei von irgendetwas, sondern er ist frei zu etwas. Er ist frei, um den Nächsten vor Schaden zu bewahren, für ihn einzutreten, wenn er es selbst nicht kann oder sich nicht traut. Er ist frei, der Wahrheit auf die Bahn zu helfen. Er muss keine falschen Rücksichten nehmen. Er lässt sich auch nicht in einen neuerlichen blauäugigen Altruismus zwingen, der perfiderweise ganz genau wissen will, was z. B. christliche Ethik von ihm fordert. Diese Art der Knechtschaft beobachte ich neuerdings wieder recht häufig.
Nicht frei von, sondern frei zu etwas sein, das ist die Parole des Tages. Das ist nicht neu, aber es ist verschüttet und verdient, neu entdeckt zu werden. Wie allumfassend diese Freiheit ist, betont schon der Apostel Paulus: "Auch die Schöpfung wird frei werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes." Röm 8,21