"Das Mehl im Krug ging nicht aus, und der Ölkrug wurde nicht leer, nach dem Wort des HERRN, das dieser durch Elia geredet hatte." 1. Kö 17,16
Meine Mutter erzählte uns Kindern manchmal aus ihrer Kindheit. Später erzählte sie dieselben Begebenheiten unseren Kindern. So habe ich manche Geschichte nocheinmal gehört. Darunter auch eine Begebenheit, aus der "bösen Zeit", also der unmittelbaren Nachkriegszeit. Unsere Kinder haben diese Erzählungen immer mit weit aufgerissenen Augen angehört.
Als der Krieg zu Ende war, wurde die Mutter gerade fünf Jahre alt. Ihr Vater war auf dem Rückzug der Wehrmacht in der Nähe von Warschau verschollen. Sie hat ihn nie wieder gesehen. Sie war die Älteste; es gab noch zwei kleinere Geschwister. Als der Krieg zu Ende war, wurde sie gerade fünf Jahre alt. Im Haushalt lebten neben ihrer Mutter noch deren Mutter, ihre über alles geliebte Omi. Die zwei Frauen zogen, so gut es ging, die drei Kinder auf in der "bösen Zeit". Denn in diesem eroberten, besetzten Land, vor allem in der russischen Besatzungszone, fehlte es an allem. Das lässt sich denken. Ein Glück war aber, dass es für Kinder eine Sonderration Nahrung gab, auch etwas Milch. Diese haben auch die beiden Erwachsenen miternährt.
Das Abendessen bestand im Frühjahr 1945 aus einem Teller Mehlsuppe, der etwas Milch beigegeben wurde. Diese Suppe quoll in der Ofenröhre. Die Mutter erzählt, dass sich jeden Tag am späten Nachmittag eine alte, alleinstehende Nachbarin einstellte, um zu plaudern. Man saß und erzählte etwas, während die Abendbrotzeit herankam. Es wurde dämmrig und dunkel. Die Kinder waren hungrig und sollten ins Bett. Die alte Dame machte aber keine Anstalten nach Hause zu gehen. Und als es dann den Teller Suppe geben sollte, fragte die Großmutter: Darf ich Ihnen auch einen Teller anbieten? Und die Antwort lautete: "Ja gerne, wenn es noch für mich reicht?" So ging es einige Wochen, nicht ohne Unmut und etwas Augenrollen, weil sich die Dame wirklich an jedem Abend einstellte. Manchmal war es schon etwas später geworden, man saß schon am Tisch und alle dachten: Vielleicht kommt sie heute nicht. Aber dann klopfte es und sie war wieder da und löffelte einen Teller Mehlsuppe.
Später, als die Zeiten wieder etwas besser geworden waren und Nahrung regelmäßig über Lebensmittelkarten ausgegeben wurden, waren die Besuche seltener geworden und hatten ganz aufgehört. Noch später kam die alte Dame und bedanktes sich für den Teller Suppe. Es sei ihr so peinlich gewesen, den Kindern das Wenige noch wegzuessen, aber dieser Teller wäre in jenen Wochen ihre einzige Mahlzeit am Tage gewesen. Sie glaubte, sie müsse verhungern. Manchmal hätte sie sich fest vorgenommen nicht zu kommen, aber es sei ihr vor lauter Hunger nicht möglich gewesen, in der Abendstunde auszubleiben.
Ich schreibe diese Erinnerung zum Gedächtnis meiner Großmutter und Urgroßmutter. Ich schreibe sie aber hauptsächlich auf, weil es eine Wundergeschichte ist. Denn sie ist den berührenden Geschichten von der Witwe und ihrem Sohn zu Zeiten Elias oder der Speisung der Fünftausend nicht unähnlich. Ich schreibe sie auf, weil Gott zuerst an den Herzen der Menschen Wunder tut, danach an den Suppentöpfen.
Wir sollen wissen, dass Gott dazu gibt, wenn wir meinen, es reicht nicht zum Leben.
"Jesus nahm die fünf Brote und zwei Fische und sah auf zum Himmel, dankte und brach die Brote und gab sie den Jüngern, dass sie sie ihnen austeilten, und die zwei Fische teilte er unter sie alle. Und sie aßen alle und wurden satt." Mk 6,41-42