Gedanken zur Tageslosung am Sonnabend, den 13. Juni 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Als ich kürzlich bei einem alten Ehepaar einen Geburtstagsbesuch machte, war ich erfreut, als das Gespräch sehr schnell auf Martin Buber und seine chassidischen Erzählungen kam. Der Hausherr stand auf, ging zu seinem Bücherschrank und kam mit zwei Büchern wieder. Eins davon hieß "Die Erzählungen der Chassidim". Er schwärmte davon und wollte sie mir ausleihen. Aber zufällig besitze sie schon - und so hatten wir ein gutes Gesprächsthema und erinnerten uns gegenseitig an besonders schöne Erzählungen.

 

Martin Buber wuchs nach der unglücklichen Scheidung seiner Eltern bei seinen Großeltern in Lemberg (in der Ukraine) auf. Sein Großvater Salomo Buber war ein ein Sammler und Erforscher der chassidischen Tradition des osteuropäischen Judentums. Die "Chassidim" sind nach der hebräischen Wortbedeutung die "Frommen". Martin Buber ist also in diese innige, in den Geschichten besonders intensiv hervortretende, unmittelbare Frömmigkeit hineingewachsen. Er kannte sie von Kindesbeinen an.

 

Genau heute vor 55 Jahren ist er in Jerrusalem gestorben.

 

Das Christentum ist aus dem Judentum herausgewachsen. Das weiß jeder. Der Apostel Paulus benutzt einmal das Bild, das Bild vom edlen Ölbaum, in das die Christen eingepfopft seien ("Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich!" Röm 11, 18). Das mag der Grund sein, weshalb uns vieles aus der jüdischen Tradition auch späterer Zeiten vertraut erscheint. Die chassidischen Erzählungen gehören jedenfalls dazu. Mit Blick auf unsere Tageslosung und unseren Lehrtext habe ich je eine dieser kurzen Erzählungen ausgewählt.

 

Losung: "Aber über das Haus David und über die Bürger Jersualems will ich ausgießen den Geist der Gnade und des Gebets." Sach 12,10

 

"Beten im Felde

ein Chassid [ein jüdischer "Frommer"], der nach Mesbiz fuhr, um den Versöhnungstag in der Nähe des Baalschem [Rabbi Israel ben Elieser] zu verbingen, fand sich einer Störung halber, als die Sterne aufgingen, noch eine gute Strecke vor der Stadt und musste zu seinem großen Gram allein auf dem Felde beten. Als er nach dem Fest nach Mesbiz kam, empfing ihn der Baalschem mit besondrer Freude und Freundlichkeit. 'Dein Beten', sagte er, 'hat alle Gebete, die auf dem Felde lagerten, emporgehoben.'"

 

Was drückt sich hier vielleicht aus? Wie wichtig ist das einsame Gebet, auch unter widrigen Umständen. Das tägliche Gebet soll unter keinen Umständen aufgegeben werden. Wir wandern inmitten von Gebeten, die Menschen sprechen oder gesprochen haben, sie umgeben uns unsichtbar. Wir sind wichtig als die, die sie fürbittend zu Gott empor tragen. Wir wissen und spüren von alledem nichts, wie der namenlose Chassid. Trotzdem geschieht es.

 

Lehrtext: "Der Geist hilft unserer Schwachheit auf. Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebührt." Röm 8,26

 

"Das mächtige Gebet

Einst am Vorabend des Neuen Jahrs, als Rabbi Nachum von Tschernobil im Bethaus mit großer Andacht das Minchagebet sprach, empfand sein Schwiegersohn, Rabbi Schalom, der den letzten Teil des Gebets vor dem Pult zu sprechen pflegte, ein solches Sinken des Geistes, dass es ihm, während alle ringsum mit großer Intentionskraft beteten, nur unter Anspannung aller Kräfte gelang, Wort für Wort herzusagen und jedes in seiner schlichten Bedeutung zu erfassen. Nach dem Beten sagte Rabbi Nachum zu ihm: 'Mein Sohn, wie hat heute dein Gebet den Himmel gestürmt! Tausende verstoßener Seelen sind durch es erhoben worden.'"

 

Was drückt sich hier vielleicht aus? Der Geist Gottes kommt über uns, nicht wir über ihn. In der Schwäche des Gebets steckt eine schier übermenschliche Stärke. Es genügt, bei aller Gelehrsamkeit, die einfache Bedeutung des gebeteten Wortes, ohne Zwischen-, Hinter-, Neben- oder Doppelsinn stark herauszustreichen. Gebete stürmen den Himmel, herrliche Beschreibung. Das Gebet leistet etwas, das durch nichts anderes je könnte bewerkstelligt werden: die verstoßenen Seelen zu Gott erheben.

 

Die Erzählungen sagen viel mehr, als dürre Worte auslegen oder abstrahieren können. Sie wirken eben als Geschichten. Bewegen wir sie heute im Herzen und lassen uns von ihnen leiten in der Sicht auf unser schwaches, armes, mühsames, kleines und hilfloses Gebet - zum Geist Gottes, der höher ist als alle Vernunft.

 

Der Lehrtext ist vertont von Johann Sebastian Bach. Es gibt viele Aufnahmen online. Die beste, die ich fand, steht hier: 

https://www.youtube.com/watch?v=pbq5sW2hWLE

 Viel Freude beim Hören. 

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019