Gedanken zur Tageslosung am Montag, den 15. Juni 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Deine Toten werden leben." Jes 26,19

 

"Grabinschrift

Im Schatten dieser Weide ruht

Ein armer Mensch, nicht schlimm noch gut.

Er hat gefühlt mehr als gedacht,

Hat mehr geweint als er gelacht;

Er hat geliebt und viel gelitten,

Hat schwer gekämpft und - nichts erstritten.

Nun liegt er endlich sanft gestreckt,

Wünscht nicht zu werden auferweckt.

Wollt Gott an ihm das Wunder tun,

Er bäte: Herr, o lass mich ruhn!"

(Marie von Ebner-Eschenbach)

 

Es hat mich, als ich ein junger Pfarrer war, sehr erschreckt, als mir eine alte Dame in meiner Dorfgemeinde sagte, sie hoffe bald zu sterben und verzichte für ihren Teil auf so etwas wie Auferstehung. Denn nach einem ewigen Leben stehe ihr nicht der Sinn und furchtbar schiene ihr, dass dieses Leben endlos weitergehen solle. Erst später bin ich auf obiges Gedicht gestoßen, das so ziemlich dasselbe sagt. Mein Erschrecken war auch darum so groß, weil ich diese Dame, eine humorvolle, pragmatische und freimütige Handwerkerwitwe, die das Herz auf dem rechten Fleck trug, sehr gern hatte. Sie war voller Frische und Lebendigkeit, es war eine Freude, sie zu treffen. Wie konnte sie so nihilistisch reden!

 

Ich bin im Laufe der Jahre gelegentlich auf diese Haltung zu Tod und Leben gestoßen. Es gibt sie in Abstufungen und wechselnden Farben. Der Tenor ist immer ganz ähnlich: Es ist genug. Ich möchte, dass es ein abschließendes Ende habe. Ich will keine lebendige Zukunft. Was sagt eine solche Haltung über die Wertschätzung des Lebens aus? Ich glaube, was mich besonders erschreckt, ist, dass ich diese Haltung als Gleichgültigkeit gegenüber dem Wunder aller Wunder, dass ich Leben darf und soll, empfunden habe. Ist mein Leben denn so sehr ohne Bedeutung, dass es eines zukünftigen Sein gar nicht wert ist?

 

Ich habe damals und später viele Male dagegen gehalten so gut ich konnte. Ich habe alle Gründe, die mir einfielen, aufgeboten. Wieso gerade sie, die so lebenslustig wirke, nicht leben wolle, dass es ein Missverständnis sei, von einer bloßen Wiederbelebung auszugehen, dass wahres Leben nicht zu verwechseln sei mit dem vorläufigen, mühseligen und beladenen Dasein der Gegenwart, wieso sie die Hoffnung der Lebenszusage ausschlage usw. Aber ich habe zugleich die Skurrilität der Situation empfunden, jemanden etwas Schönes zuzusprechen, das er gar nicht haben mag. Es ist ein bisschen das Gefühl gewesen, das sich einstellt, wenn man jemandem ein schönes Geschenk überreicht, das mit viel Liebe ausgesucht wurde, das der nur enttäuscht beiseite legt.

 

Wie mag sich Gott fühlen, der sich doch in Christus aus lauter Liebe in Schmerz dahingibt - und wir Menschen wollen das gar nicht haben?

 

Jetzt, wo ich die Hälfte des Lebens hinter mir habe, würde ich nicht mehr so stark gegen eine solch überreife, postmoderne Lebensmüdigkeit anreden. Ich bin bereit zuzugeben, wie es im Liede heißt: "An mir und meinem Leben ist nicht auf dieser Erd'". Ja, das ist richtig. Was ist an mir gelegen?

 

Aber der Prophet Jesaja redet gar nicht von "mir" und "meinem Tod". Er sagt: "Deine Toten werden leben". Er redet also von "unseren Toten", in der Mehrzahl. Und das macht den entscheidenden Unterschied. Ich bin mitgemeint, aber nur einer von sehr vielen.

 

Die Zusage richtet sich ursprünglich an das Volk Israel. Ich glaube daran, dass sie erweitert verstanden werden muss und sich auf alle bezieht, die in Christus erlöst sind. Es ist also ein Wort, das auf die Gemeinschaft abzielt, der ich zugehöre. Es gilt der "Gemeinschaft der Heiligen", an die ich glaube und die ich bekenne.

 

Zu dieser Gemeinschaft will ich unbedingt dazugehören. Darauf freue ich mich schon jetzt. Stellt euch vor: ihr gehört mit den Vätern und Müttern, Kindern und Enkeln im Glauben diesem geheimnisvollen Reich Gottes lebendig zu - ich weiß keine Details darüber zu berichten. Aber einer solchen gemeinsamen Zukunft entgegen zu gehen im Kreise der Menschen, die ich liebe, mit denen ich sein will - ja das bleibt eine herrliche, lebensvolle Verkündigung. Das würde ich der alten Dame hauptsächlich sagen. Damals habe ich es noch nicht so klar gesehen.

 

Auch der Apostel Paulus redet im Plural und bringt es deutlich auf den Punkt: "Wir wissen, dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, wird uns auch auferwecken mit Jesus." 2. Kor 4,14

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019