Gedanken zur Tageslosung am Freitag, den 10. Juli 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Eine Generation rühmt der andern deine Werke, und deine mächtigen Taten verkünden sie." Ps 145,4

 

Kürzlich las ich von einem Ausspruch des Bernhard von Chartres. Er war ein gelehrter Theologe des beginnenden 12. Jh. Das ist aberwitzig lange her. Über ihn ist nur sehr wenig bekannt, nicht einmal seine Lebensdaten. Er lehrte an der Domschule von Chartres. Mit dem Bau der herrlichen Kathedrale Notre-Dame von Chartes  (das ist die mit dem allseits bekannten Labyrinth) wurde erst ein Menschenleben nach seinem Tode überhaupt begonnen.

 

Er muss ein prägender Lehrer gewesen sein, denn noch die Schüler seiner Schüler überliefern den berühmten Ausspruch, der seit Jahrhunderten durch die Geistesgeschichte wandert. Es ist ein interessantes Bildwort.

 

So überliefert Johannes von Salisbury: "Bernhard von Chartres sagte, dass wir gleichsam Zwerge seien, die auf den Schultern von Riesen sitzen, so dass wir etwas mehr und weiter zu sehen vermögen, nicht aufgrund eigenen scharfen Sehens  oder herausragender Körpergröße, sondern weil wir hinaufgebracht und emporgehoben werden durch die Größe der Riesen."

 

Als Platoniker meinte Bernhard vor allem die antiken Schriftsteller, die er liebte und erforschte. Spätere haben sich analog als Zwerge auf den Schultern derjenigen Riesen verstanden, die vor ihnen waren und ihnen Weitblick ermöglichen. Das Gleichnis ist im Laufe der Jahrhunderte immer wieder gern benutzt worden.

 

Das ist in Fragen des Glaubens nicht anders. Wir könnten es auf diese Formel bringen: Es geht nicht um das Glauben aus dem Moment, sondern um das Weiterglauben durch Empfangen. Kontinuität und das lebendige Sich-Aneignen im Angesicht der Gegenwart sind die beiden Seiten ein und derselben Medaille.

 

Das Schöne an dem Bild ist seine Selbstironie. Sich selbst als "Zwerg" zu bezeichnen, das hat jene verschmitzte Größe, die um die eigene Fehlbarkeit und Anfälligkeit für Kleinlichkeiten und Nebensächlichkeiten weiß. Es gibt so viele Dinge, die vorläufig und letztlich nichtig sind. Sie mögen ein relatives Recht im Moment besitzen, haben aber auf längere Sicht keine Bedeutung.

 

Ausgesprochen witzig sind im Vergleich dazu diejenigen Zwerge, die sich Riesen zu sein dünken. Sie gestehen den großen Geistern, die vor ihnen waren, nur die Größe eines Zwerges zu. Das sind die, die Statuen mit Brechstangen zu Boden stürzen oder ins Wasser schmeißen. Sie machen auch vor der Heiligen Schrift nicht halt. Ach Gott, sie sind drollig anzusehen. Es lächert mich, wenn ich nur an sie denke, wie sie das Bild von Riesen auf den Schultern von Zwergen abgeben (wenn überhaupt). Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Zwerg zusammenbricht unter ihrem aufgeblasenen Gewicht, wer weiß. Dann gucken sie nur noch aus der eigenen Wäsche. Man könnte sich fürchterlich über sie aufregen. Ich bekenne, dass ich hier zu anfällig bin. Aber das ist ungesund und trübt die Lebensfreude. Und das geht doch nicht. Man sollte über ihre Possen herzlich lachen - und hoffen, dass es bald vorbei geht.

 

Noch ein Gedanke gefällt mir an dem Bilde. Ich habe meine drei Kinder, als sie noch klein waren und ihre Beinchen nicht so gut laufen konnten, oft auf den Schultern zwischen Berg und Tal herumgetragen. Der Zwerg hatte ein fröhliches Dasein da oben.

 

Unseren Glauben haben wir nicht aus uns selbst hervorgedacht. Wir haben ihn empfangen. Es waren immer Leute da, die, wie der Apostel Paulus, gesagt haben: Wir geben euch weiter, was wir selbst empfangen haben. Indem sie das taten, setzen sie uns auf ihre Schultern. Tatsächlich, wir sitzen etwas höher - nur ganz wenig - und sehen etwas weiter in eine Welt, die man früher noch nicht kannte. Nur das haben wir ihnen voraus.

 

Es geht darum, dass wir dieses Bewußtsein unseren Kindern und Kindeskindern weitergeben, dass sie zur "wachsenden Zahl der Glaubenden" gehören können. Sie mögen zwar auch nur Zwerge bleiben, aber solche, die wissen, auf welchen Schultern sie sitzen und vorankommen können. Dann wäre das Wort des Lehrtextes zu seinem Recht gekommen: "Die Gnade mehre sich durch die wachsende Zahl der Glaubenden, und so ströme der Dank reichlich zur Verherrlichung Gottes." 2 Kor 4,15

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019