Gedanken zur Tageslosung am Freitag, den 24. Juli 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!" Jes 63,19

 

Der Amtsvorgänger meines Vaters hatte, nachdem er Ruheständler geworden und in den "Westen" gezogen war, auf dem Dachboden einen Schrank voller Bücher hinterlassen. Der stand einige Jahre unberührt herum und wurde uns vom Vater überlassen, nachdem er einige interessante Bücher seiner eigenen Bibliothek einverleibt hatte. Die Hinterlassenschaften des Pastors Heuser - so hieß der Mann - bildeten dann den Grundstück meiner eigenen Bibliothek. Ich angelte mir einige schöne Klassiker-Werkausgaben in Goldschnitt und Halbleder, die ich bis heute gern zur Hand nehme.

 

Außerdem fand sich in diesem Schrank auch das Fragment eines Schulbuches aus dem beginnenden 20. Jh., das der alte Pfarrer aus eigenen Kindertagen hinübergerettet haben mochte. Es war zerknittert und zerschunden. Auch war nur der hintere Teil, ab Seite 248 erhalten geblieben. Ich nahm es zur Hand und erblickte sogleich einige Fotos der Hagia Sophia in Konstantinopel und der sich in ihr befindlichen herrlichen Christusmosaiken. Sie waren durch Zufall erhalten geblieben. Ich las noch auf dem staubigen Boden die Seiten, die dieses Bauwerk und seine Geschichte zum Inhalt hatten und dachte: Ob ich das einmal mit eigenen Augen sehen dürfte? Gleich damals hat mich die geistliche Dimension dieses Bauwerks berührt. Das hohe Alter (6. Jh), Kaiser Justinian, die Architektennamen Isidor von Milet und Anthemios von Tralleis (sehr klangvoll, oder?), die schwebende Kuppel, die Leichtigkeit des Innenraums, die Christusmosaiken ... Ich weiß es noch wie damals.

 

Vor knapp zehn Jahren durfte ich selbst nach Konstantinopel reisen und habe diese Kirche besucht. Sie war zu einem Museum geworden. Museen sind elende Orte einstiger Größe. Aber als ich mir in Gedanken Altar, und Priester, Gesang und Gebet hinzudachte, da schien sie mir strahlender als ich es mir je hätte hatte vorstellen können. Da wurde sie, was eigentlich jede Kirche ist, ein Stück Himmel auf Erden. Da dachte ich, die Hagia Sophie ist doch die schönste Kirche der Christenheit geblieben, ein Band Himmels und der Erden.

 

Natürlich ist sie das nur in meinen Gedanken. Ich bin eben ein Spinner. Denn Streng genommen ist sie seit 1453, als die Osmanen Konstantinopel eroberten und die sich in die Kirche flüchtende Menge niedergemetzelt hatten, eine Moschee gewesen. Stefan Zweig erzählt in einer seiner "Sternstunden" sehr plastisch von dieser Katastrophe im Jahre 1453 und der Schuld des Abendlandes am Untergang des byzantinischen Kaiserreiches. Man lese es nach.

 

Durch die Presse geisterte am Rande die Nachricht, dass die Hagia Sophia seit heute auch kein Museum mehr ist, sondern mit dem Freitagsgebet wieder eine Moschee sein wird. Es war abzusehen. Mich überrascht es nicht.

Ist das alles schlimm? Nun, es sollte so kommen. Gott hat es gewollt. Die Christenheit ist offenbar eines solchen Baues nicht würdig.

 

Wohin wird uns unsere Gottlosigkeit noch führen? Was werden wir noch verlieren, wenn uns der Glaube abhanden kommt? Die Hagia Sophia, so schön sie sein mag, ist doch nur aus Stein und Marmor gemacht. Was liegt an Stein und Marmor? Es kann noch schlimmer kommen. 

 

"Erlöse uns von dem Bösen." (Mt 6,13) lehrt uns Jesus im Vaterunser beten. Das gilt. Es bleibt die nie verstummende Bitte der Christenheit, dass uns Gott läutere, befreie von der Macht der Sünde und des Bösen in all seinen raffinierten Spielarten.

 

Und wenn wir nach seinem Ratschluss alles hergeben müssten, was uns an irdischen Dingen lieb und wert erscheint: Dass er uns doch die Heilige Weisheit im Glauben erhielte und mehrte, dass wir die Erlösung in der Nachfolge unseres Herrn und Heilands Jesus Christus suchten und der Kraft des Heiligen Geistes vertrauten bis zu unserem letzten Atemzug. "Ach, dass du den Himmel zerrissest und führest herab!" Amen.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019