Gedanken zur Tageslosung am Montag, den 27. Juli 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Der HERR gibt Weisheit, und aus seinem Munde kommt Erkenntnis und Einsicht. Spr 2,6

 

Weisheit - was soll das sein? Die Bedeutung ist nicht klar abgesteckt. Man wünschte sich eine exakte begriffliche Bestimmung. Das ist gar nicht so leicht. Mit der aufgeklärten Vernunft sieht es da etwas besser aus. Sie steht ja auch landläufig höher im Kurs als die Weisheit. Gern beruft man sich dafür auf die berühmte Begriffsbestimmung des Königsberger Philosophen Kant. Er hatte die Frage "Was ist Aufklärung?" des Berliner Pfarrers Johann Friedrich Zöllner, die dieser 1783 in der Fußnote eines kleinen Aufsatzes gestellt hatte, aufgegriffen.

 

"Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen ... Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Versandes zu bedienen!" (Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift 4, 1784)

 

Das klingt wie in Erz gegossen und ist genial formuliert. Man kann so etwas geradezu auswendig lernen wie ein Gedicht. Es ist pfiffig, auf's Wort gestellt und entbehrt nicht eines mitreißenden Pathos'. Es fühlt sich gut an, zum fleißigen Gebrauch des eigenen Verstandes, der eigenen Vernunft, des eigenen Intellekts ermutigt zu werden. Für den großen Immanuel Kant darf das auch unbedingt so stehen bleiben. Wer könnte es mit ihm aufnehmen? (Jedenfalls nicht die Schlingel, die seine Statuen gerade mit Farbbeuteln traktieren und ihn am liebsten vom Sockel stoßen wollen.)

 

Wir blicken in die Gegenwart und sind etwas ernüchtert. Mir will es scheinen, dass ganz offensichtliche Tatsachen verstandesmäßig nicht durchschaut werden. Ich denke an erster Stelle an die politischen Schlauköpfe auf der ganz großen Bühne und ihre willigen medialen Lautsprecher. Sei 2015 scheint mir das krass hervorzutreten. Sind diese Leute nicht die genaue Widerlegung zu Kants These von der Aufklärung? Warum bedienen sie sich nicht des eigenen Verstandes ohne Leitung eines anderen? Zeter und Mordio! Sie haben die Aufklärung verraten!

 

(Ich will nicht ungerecht sein. Vielleicht ist alles meine Schuld. Bestimmt bin ich einer jener Dunkelmänner fernab jeder Aufklärung. Möglicherweise bin ich von dem strahlenden Licht ihrer Vernunft so geblendet, dass es mir geht wie dem törichten Kinde, das ungeschützt in den strahlenden Sonnenball blickt. Das soll man ja nicht tun. Lassen wir das.)

 

Unabhängig davon dürfen wir aber (mit leiser Kritik am großen Kant) daran erinnern, dass es Dinge gibt, die "höher sind als alle Vernunft" (Phil 4,7). Hier wird es interessant.

 

Die Weisheit steht höher als die Vernunft. Kann es sein, dass eine weise Rede oder eine weise Handlung ohne Leitung eines anderen gar nicht existieren kann? Unser Vers jedenfalls erinnert uns daran, dass die Weisheit eine Gottesgabe ist. Vielleicht unterscheidet sie das auch von der Vernunft, von der die Aufklärung so hoch dachte. Es versteht sich, dass uns Weisheit mehr gilt als Vernunft.

 

Es ist viel die Rede davon, dass man einander "auf Augenhöhe" begegnen solle. Dieser modische Ausdruck gehört in die Welt der Vernunft. "Auf Augenhöhe" begegnen sich Gockelhähne, die einmal miteinander streiten wollen. Sollen sie. Das ist ja auch fein, klug, witzig, intelligent und unterhaltsam, wenn es gelingt. Es ist das Spiel, das Settembrini und Naphta auf dem Zauberberg spielen. Aber es ist hier keine Weisheit im Spiel.

 

Mir scheint, Weisheit kennt grundsätzlich ein Gefälle. Sie hat einen anderen Ursprung als die Blitzgescheitheit. Denn niemand ist weise ohne dass ihm Gott Einsicht und Erkenntnis schenkt. Gottessfurcht ist darum ein Signum der Weisheit. Das ist auch der Grund, weshalb der Weise über den Dingen steht. Er blickt aus höherer Warte auf sie herab. Er spricht und alle merken: aus ihm spricht Gott.

 

Das kann man nicht machen. Argumentationsstrategien, rhetorische Übungen und logische Kniffe verfangen hier nicht. Wer vernünftig ist, danke Gott und freue sich seiner Klugheit. Aber weise sein ist mehr. Dem Frommen ist Weisheit verheißen. "Wenn es jemandem unter euch an Weisheit mangelt, so bitte er Gott, der jedermann gern und ohne Vorwurf gibt; so wird sie ihm gegeben werden." Jak 1,5

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019