"Ihr werdet erfahren, dass ich der HERR bin, wenn ich so an euch handle zur Ehre meines Namens und nicht nach euren bösen Wegen und verderblichen Taten." Hes 20,44
Ich erinnere mich eines dreijährigen Knaben, der, wenn er sich ungerecht behandelt oder gehänselt fühlte, wie eine Wilder zu seinen Pappschwert griff und sich im Sinne eines Rachefeldzugs wütig auf sein Gegenüber stürzte. Dabei bediente er sich des Schlachtrufes: "Jetzt gibt's Drache!" Das Wort Rache kannte er scheinbar noch nicht. Aber die Sache, nämlich Rache üben, die kannte er schon sehr gut. Er wandte sie reflexartig an und in einer so enthemmten Weise, dass man den Kopf einziehen musste. Ja, seine Rache war sogar oft weit blutiger als das zuvor erlittene Unrecht.
Was bei einem Kind unverhüllt in Erscheinung tritt, lässt sich auch bei den Erwachsenen, den wahren Spitzbuben, gut beobachten. Die haben freilich die rechten Worte längst gelernt, um ihre niedrigen Rachegelüste zu kaschieren oder gar zu rechtfertigen. Mit der nötigen Schläue finden sich stets Formulierungen und Formeln, die den Schein des Rechts zu wahren versuchen. Ganze Völker fallen darauf herein. Auch heute, beim Hören der Nachrichten im Radio, man höre nur mit etwas kritischer Distanz hin, dann man das entdecken. Es ist ganz leicht, widerliche und ehrenrührige Beispiele zu entdecken.
Es ist übrigens wohlfeil, den Splitter immer im Auge des anderen zu sehen. Darum wollen wir den Mund nicht zu voll nehmen und auch des Balkens im eigenen Augen gedenken. Er ist unübersehbar groß.
Fest steht jedenfalls: Ist der Rachefeldzug erst einmal beschlossen, dann wird zugeschlagen. Zuerst wird die Schuld aufgerechnet, danach abgerechnet. Abrechnung ist geradezu ein Merkmal der Rache. Sie ist von eiserner Konsequenz.
Oft hört man das Vorurteil, dass der Gott des Alten Testaments ein strafender Richter seiner verletzten Ehre sei. Nun, Grund genug hätte er dazu. Aber es ist trotzdem nicht wahr. Unser Vers bekundet das Gegenteil. Es ist also genau umgekehrt: Um der Ehre seines Namens willen, heißt es, um seines "HERR-Seins" willen verzichtet er auf die Abrechnung. Die unerbittliche Konsequenz, die Menschen so sehr auszeichnet, ist seinem Wesen zuwider.
Diese Rede von Gott lässt aufhorchen. Wir haben es, zugespitzt ausgedrückt, mit einem Gott der Inkonsequenz zu tun. Diese Inkonsequenz geht so weit, dass er am Ende die Strafe selbst auf sich nimmt. In Jesus Christus opfert er sich auf, damit wir erlöst werden von der tödlichen Inkonsequenz des Strafvollzugs, den wir doch so toll finden. Gott ist also heilsam inkonsequent. In diesem Sinne spricht Christus in der Bergpredigt: "Der Höchste ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen." Lk 6,35
Man darf sich selbst einmal fragen, ob das etwas für uns zu bedeuten hat, nur für den Fall, dass wir wieder einmal ins unerbittliche Aufrechnen fremder Missetaten geraten sollten.