"Die Erde ist des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen." Ps 24,1
Aphorismus 125 der "Fröhlichen Wissenschaft" (1882) gehört zu den rätselhaftesten Texten Friedrich Nietzsches. In ihm wird der Tod Gottes proklamiert. Die Umstände, unter denen das passiert, sind so skurril und widersprüchlich, dass man noch heute darüber rätselt, was in diesem kurzen Textstück eigentlich ausgesagt wird.
In unserem Zusammenhang ist festzuhalten, dass von einem "tollen Menschen", also einem Wahnsinnigen, erzählt wird, der am hellerlichten Tage mit einer Laterne auf einem belebtem Marktplatz umherirrt und Gott sucht. Als die Umstehenden sich über ihn lustig machen, schleudert er ihnen entgegen:
"Wohin ist Gott? ... ich will es euch sagen! Wir haben ihn getötet - ihr und ich! Wir alle sind seine Mörder. Aber wie haben wir das gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Ws taten wir, als wie die Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch eine unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch nichts von dem Lärm der Totengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch nichts von der Verwesung? - auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt Tot!"
Die Kaskade von lauter Fragen enthüllt das Entsetzliche. Es sind eigentlich gar keine Fragen, sondern Aussagen. Der Wahnsinn des "tollen Menschen" besteht nicht etwa in fehlender Geistesschärfe oder wirrer Rede. Im Gegenteil, die Gedankenbewegung, die sich in diesen Fragen abzeichnet, ist überscharf und übersichtig. Sie ist von schmerzhafter Notwendigkeit getrieben.
Ist Gott tot, wird nichts mehr seinen Platz behalten. Dann wirbelt "die Erde des HERRN und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen" in wildem Taumel dem Irgendwo-Nirgendwo entgegen. Der Wahnsinn treibt ins Nichts.
Es zeichnet Nietzsche aus, dass er die Konsequenz seiner Gottlosigkeit und ihre entwurzelnde Dynamik gesehen und qualvoll benannt hat. Das unterscheidet ihn vom jovialen Humanisten-Atheismus unserer Tage. Mir scheint, im Grunde hat hier die Tollheit schon ihr nächstes Verfallsstadium erreicht. Die Themen, die die Öffentlichkeit unserer Tage bewegen, sind der lebendige Beweis dafür.
Es bleibt die wichtigste Aufgabe der Christenheit, den lebendigen Gott zu bezeugen und damit keine Sekunde lang aufzuhören. Es liegt ein Schleier darüber, wie es geistesgeschichtlich zu solch gottesmörderischen Zuständen hat kommen können. Es hat jedenfalls mit einer schweren Autoaggression zu tun. Klugheit oder Weisheit kann ich nicht darin erblicken, sich des Trostes, der Hoffnung und der Ewigkeit zu entschlagen. Es ist noch nicht einmal vernünftig, das Sein Gottes zu bestreiten, geschweige denn weise.
"So seht nun sorgfältig darauf, wie ihr euer Leben führt, nicht als Unweise, sondern als Weise." Eph 5,15