Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, den 13. Juni 2021, 1 Kor 14, 1-13

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Strebt nach der Liebe! Bemüht euch um die Gaben des Geistes, am meisten aber darum, dass ihr prophetisch redet! 2 Denn wer in Zungen redet, der redet nicht zu Menschen, sondern zu Gott; denn niemand versteht ihn: im Geist redet er Geheimnisse. 3 Wer aber prophetisch redet, der redet zu Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung. 4 Wer in Zungen redet, der erbaut sich selbst; wer aber prophetisch redet, der erbaut die Gemeinde. 5 Ich möchte, dass ihr alle in Zungen reden könnt; aber noch viel mehr, dass ihr prophetisch redet. Denn wer prophetisch redet, ist größer als der, der in Zungen redet; es sei denn, er legt es auch aus, auf dass die Gemeinde erbaut werde. 6 Nun aber, Brüder und Schwestern, wenn ich zu euch käme und redete in Zungen, was würde ich euch nützen, wenn ich nicht mit euch redete in Worten der Offenbarung oder der Erkenntnis oder der Prophetie oder der Lehre? 7 So verhält es sich auch mit leblosen Instrumenten, es sei eine Flöte oder eine Harfe: Wenn sie nicht unterschiedliche Töne von sich geben, wie kann man erkennen, was auf der Flöte oder auf der Harfe gespielt wird? 8 Und wenn die Posaune einen undeutlichen Ton gibt, wer wird sich zur Schlacht rüsten? 9 So auch ihr: Wenn ihr in Zungen redet und nicht mit deutlichen Worten, wie kann man wissen, was gemeint ist? Ihr werdet in den Wind reden. 10 Es gibt vielerlei Sprachen in der Welt, und nichts ist ohne Sprache. 11 Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht kenne, werde ich ein Fremder sein für den, der redet, und der redet, wird für mich ein Fremder sein. 12 So auch ihr: Da ihr euch bemüht um die Gaben des Geistes, so trachtet danach, dass ihr sie im Überfluss habt und so die Gemeinde erbaut. 13 Wer also in Zungen redet, der bete, dass er's auch auslegen könne. 1. Kor 14, 1-13

 

Was fangen wir mit einem Text an, der den Überschwang der unverständlichen, ekstatischen Gottesrede tadelt? Es scheint mir das letzte Problem der evangelisch-lutherischen Kirche unserer Tage zu sein, dass sie sich vor überschießender Gottesergriffenheit nicht zu lassen wüsste. Vielmehr im Gegenteil. Mancher meint, sie verliere sich in allerlei "Allotria" und hätte Gottes fast vergessen. Die Probleme geistlichen Redens und Verstehens sind mannigfach. 

 

Mir fiel eine kleine Notiz ein, die von dem großen Mathematiker, Philosoph und Theologe  Blaise Pascal (1623-1662) stammt. Als er starb, fand sich in seinem Nachlass eine große Zettelsammlung. Sie sollte als Vorarbeit für ein großes theologisches Werk dienen, das leider nicht mehr zustande kam. Unter dem Titel "Gedanken" (Pensées) sind diese Zettel gedruckt und sehr berühmt geworden, weil sie ein wahres Feuerwerk von Geist und Gedanke entfachen. Ich erinnere mich dunkel an folgenden Gedankensplitter, den ich einst bei ihm las: Man stelle sich einen Prediger vor, der im Begriff ist auf eine Kanzel zu steigen. Der Zufall will, dass sein Talar etwas beschmutzt ist, dass seine Perücke schief sitzt, dass er verwachsen und buckelig ist und etwas mühsam herumhumpelt. Oben angekommen erweist er sich als hässlich mit einer hohen, quäkenden Stimme. Seine Erscheinung ist so überaus lächerlich, dass jeder schmunzeln muss. Selbst wenn er die größten Wahrheiten verkündete, könnte ihm glauben oder auch nur ernstlich zuhören. - Hat Pascal recht mit dieser Beobachtung?

 

Sie ist interessant, weil sie das komplizierte Geschehen von Reden, Hören und Verstehen illustriert. Seit alters hat man entdeckt, dass drei Größen in einem feinen Zusammenspiel stehen müssen, um ein Verstehen zu ermöglichen: Die Sache (res), von der gehandelt wird, die dazu passenden Worte (verba) und schließlich der Hörer, der zur Aufnahme fähig und bereit sein muss. Ist auch nur eine Größe beeinträchtigt, kommt bei aller Anstrengung nichts rechtes heraus: Eine gute Sache in schlechten Worten verpufft genauso wie viele glatte Wörter ohne rechten Inhalt. Und gute Worte von einer guten Sache zu unfähigen Zuhörern - das ist alles in den Wind gesprochen.

 

Den Leuten von Korinth mangelt es in ihrem Zungenreden offenbar an einer der notwendigen Größen, nämlich den guten Worten. Es ist nicht ganz deutlich, wie man sich das vorstellen muss. Denkt der Apostel Paulus an ein Reden in fremden Sprachen wie zu Pfingsten? Das zielte auf die versammelten Fremdländer ab; konnte aber damals auf dem Marktplatz von Jerusalem überraschenderweise gerade recht gut verstanden werden. Oder handelt es sich um das eher neuzeitliche Phänomen wortloser Anbetung pfingstlich-evangelikaler Kreise in Verzückung? Wie gesagt, wir wissen es nicht ganz genau. Fest steht aber, dass ein überschäumend-unbändiges Element in der Gottesrede der Korinther gewesen sein muss, das nicht verstanden werden konnte. Das geht aus dem Kontext klar hervor.

 

Manchmal blicke ich etwas neidisch auf die frühen Zeiten des Christentums, wo geistliche Lebensäußerungen das Zeichen der Frische und Unmittelbarkeit trugen. Es sprudelte aus den Leuten nur so heraus. Wir Heutigen - vielleicht auch mit den bewussten und unbewussten geistlichen Erfahrungen von 2000 Jahren im Rücken - sind sehr viel nüchterner, abgeklärter und kühler in unserer Rede geworden. Diese herrliche, haltlos hervorbrechende Art ist nicht mehr die unsere. Ob unsere Rede dadurch etwas "prophetischer" ist als die der korinthischen Leute?

 

Fest steht, dass unsere geistlichen Worte zunehmender Sprachlosigkeit abgerungen sind. Denn es ist nicht leicht so über geistliche Dinge zu reden, dass sie verständlich und erbaulich sind. Es gibt gar nicht wenige Leute, die der Meinung sind, dass die Sonntagspredigten besser sein sollten als sie leider sind. Und ich kenne viele Amtsbrüder, die ihre ohnmächtige Rede nur mit Zittern und Zagen vorbringen. Viele suchen sogar aus diesem Grunde eine Pfarrstelle zu bekommen, an der sie nicht mehr wöchentlich predigen müssen. Ich schätze, sie suchen einer Art "Verkündigungsdruck" zu entgehen. Denn, wie gesagt, es ist nicht leicht, sich dem Urteil einer Hörerschaft auszusetzen, das Redundanz oder Belanglosigkeit bilanziert. Und es bleibt ein seltenes Glück, Worte zu finden, die etwas bedeuten und die Menschen berühren.

 

Unwillkürlich fällt mir, denke ich an die ungestüme Zungenrede der Korinther, als Vergleich ein spritziger, frischer Federweißer ein, der noch ganz jung ist. Die Flasche darf man nicht zudrehen, weil die Gärung im Gange ist und das Ganze explodiert, wenn man es übertreibt. Solch ein Tropfen kann schmecken, wenn man ihn an einem lauen Spätsommerabend im Weinberg verkostet, keine Frage. Aber die Sache ist noch nicht ausgegoren, unfertig, überschäumend, trübe und manchmal auch etwas zu süßlich. Da sieht es anders aus mit einem in die Jahre gekommenen, abgelagerten, gereiften Tropfen aus einem tiefen, dunklen Keller. Das Etikett ist etwas verstaubt, man muss es erst mit dem Ärmel abwischen. Solch ein Wein ist von angenehmer Kühle, funkelt im Kerzenlicht wie Edelstein und ist ein wahrer Genuss. Was ist besser, ein Federweißer oder ein alter Wein? Ich habe meine Wahl getroffen.

 

Eine Rede, die die Hörer berührt, das ist es, was der Apostel als "prophetische" Rede bezeichnet. Diese Wortwahl erscheint im ersten Augenblick ungewöhnlich, da wir die Botschaft eines "Propheten" mit Gerichts-, Heils- oder Unheilsverkündigung assoziieren. Der Zusammenhang, in dem der Apostel Paulus dieses Wort gebraucht, legt aber nahe, darunter eine verständliche, relevante, lebenswirkliche, konkrete und aufbauende Rede zu verstehen. Mehrfach nennt er als Ziel, dass diese Rede der "Erbauung" dienen solle.

 

Das ist schon etwas. Ein Wort, das wirkt, was es verspricht, das Halt und Festigkeit gibt. Wir alle bekennen uns zu Christus, weil wir an irgendeinem Punkt in unserem Leben solch ein Wort bekommen haben. Ich möchte euch, liebe Schwestern und Brüder, eine kleine Hausaufgabe geben. Wann und von wem ist euch ein solches "prophetisches", wahrhaftiges Wort gesagt worden, so dass ihr berührt wurdet von Christus? Erinnert euch daran, ruft es wieder wach und setzt es gegen die lärmende Geschwätzigkeit eures Alltags. Findet den Geist dieses Wortes und dann redet selbst zu euren Kindern und Enkeln. Vertraut darauf, dass es der Geist Gottes ist, der euer Reden dann zu einem "prophetischen" macht. Es werden eure Worte die Menschen berühren, denen ihr die Botschaft des Heiles, die in eurem Herzen lebt, schuldig seid.

 

Dazu helfe euch der dreieinige Gott.

 

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019