Sieht man jemanden in die Augen, sieht man das Auge als physiologisches Wunderwerk gar nicht. In Bezug auf die Anatomie bleibt der Betrachter blind. Er sieht durch Bindehaut, Linse und Glaskörper hindurch in das Dunkel des Innenauges. Aber was man sehen kann, wenn man jemanden in die Augen sieht, das ist unendlich viel mehr. Man sieht die Seele selbst. Das ist ein Wunder.
Das Auge sieht sich nicht selbst, ist also blind für sich. Es ist ebenso blind für das Auge des Gegenübers hinsichtlich seiner Materialität.Nicht aber für den Blick, den es trifft. Dieser Blick im Blick gleicht einer Offenbarung. Es gehört zu den schönsten und zugleich zu den verstörendsten Erfahrungen, wenn Blicke sich treffen, je nach dem. Denn der Blick selbst ist schon ganz Ausdruck und Botschaft des Innersten. Es braucht nicht unbedingt Worte dazu. In einen Blick kann die ganze Palette verschiedenster Inhalte gelegt werden: Freude und Trauer, Langeweile und Neugier, Friedfertigkeit und Wut, Neid und Großmut, Vergebung und Abscheu, Hass und Liebe. Das alles und viel mehr kann in einem Blick liegen. Das es etwas Geheimnisvolles mit dem Blick ist, wird auch daran deutlich, dass er in Scham zu Boden gewendet wird. Er kann durch jemanden hindurch gehen usw.
In einer Predigt äußert Augustinus einmal einen schönen Gedanken, der hier anknüpft. Es bestünde das Ziel unseres menschlichen Lebens eigentlich darin, einmal Gott zu schauen. Dahin, meint er, seien wir unterwegs. Wenn wir aber, fährt er fort,
in die Gottesschau kommen, würden wir erfahren, dass er uns schon längt angeschaut habe, bevor wir ihn anschauten: „Videntem videre“, folgert er, wir kämen dahin, den anzuschauen, der uns schon längst anschaut. (Sermo 69, II, 3)
Was wird es wohl bedeuten, wenn wir wissen, dass uns Gott anblickt? „Deine Augen sahen mich, als ich noch nicht bereitet war ...“ (Ps 139,16) Wie darf man sich diese Augen vorstellen? Welcher Affekt wird wohl in ihnen, auf dem Grund der Seele Gottes, sichtbar werden?
Der Apostel Paulus redet einmal davon, dass wir in Bezug auf das Geheimnis Gottes nur Stückwerk kennen, einstmals aber von Angesicht zu Angesicht sehen werden. (1. Kor 13,2) Das ist der Ausblick, den wir haben. Das mag uns einfallen, wenn wir zum Ewigkeits - und Totensonntag wieder unserer Toten gedenken. Sie – und wir nach ihnen – gehen im Glauben auf die Ewigkeit zu, werden ihn schauen und merken, dass wir schon längst von ihm erkannt sind.
Ihr Pfarrer Ilgner