Andacht zur Tageslosung am Donnerstag, den 23. April 2020

"Ich habe dich bereitet, dass du mein Knecht seist. Israel, ich vergesse dich nicht!" Jes 44, 2

 

Seit Jahren finden regelmäßig Gottesdienste in den drei Altenheimen statt, die auf dem Gebiet unserer Kirchgemeinde liegen. Ich habe den Eindruck, dass die Menschen, die dort ihr letztes zu Hause gefunden haben, im Laufe der Jahre immer älter und immer stummer geworden sind. Nur mit sehr wenigen ist eine Unterhaltung möglich, weil sie so viel vergessen haben, ihren Namen, die Namen ihrer Kinder und Enkel, ihren Beruf, ihren Geburtstag, fast alles. Ich glaube, dass die meisten dem Gedankengang einer Predigt nicht folgen können, die Texte der Lieder nicht mehr fassen, ja oft nicht einmal mehr die Gesangbuchseite aufschlagen können. Trotzdem gibt es einen Augenblick in jedem dieser Gottesdienste, der fast wie ein Wunder ist. Ich freue mich schon immer darauf.

 

Das ist der Moment, wenn das Vaterunser gebetet wird. Dann geht eine Bewegung durch die sehr alten Menschen in ihren Rollstühlen. Manche heben die Köpfe. Andere falten die Hände. Bei den meisten fangen sich nach einigen Worten die Lippen zu bewegen an. Das ist ein stummes Geschehen. Zu hören sind neben meiner Stimme nur die der treuen Helfer der Gemeinde, die den Gottesdienst begleiten. Aber mir scheint es so, als erwachten diese hochbetagten, von vielen vergessenen Leute für eine kurze Zeit aus dem Dämmer eines gedankenlosen Traumes. Sie sprechen die Worte, die sie als Kinder gelernt und niemals vergessen haben. Das ist ihnen geblieben.

 

Dieses Kinderwissen antwortet der göttlichen Zusage: "Israel, ich vergesse doch nicht!" Es sagt: "Ich vergesse dich auch nicht."

 

Dieses Kinderwissen hält als Letztes fest, dass Gott der Vater ist, dessen Reich im Anbruch steht und auf uns zu kommt mit jeder Sekunde, die verstreicht. Wir kommen ihm immer näher. Das ist der Segen, der auf dem Altern liegt. Wenn das stimmt, dann ist das Älterwerden mit allem, was es bedeutet, auch dem Versinken der Erinnerungen, kein Fluch. Tage, Stunden und Sekunden sind dann Schritte auf die Erlösung hin: "Erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich ..."

 

Die Alten in diesen Gottesdiensten gehören einer Generation an, die das Vaterunser als Kinder wie selbstverständlich gelernt hat. Was wird in denen lebendig bleiben, die es als Kinder und auch später nie gelernt haben?

 

Liebe Freunde, jeden Tag ein Vaterunser! Mindestens eins. Es gilt schon jetzt zu lernen und im Gedächtnis zu halten, was bleiben soll, wenn wir sonst fast alles vergessen haben werden. Denn wir sind erwachsene Leute und wissen, dass wir auch einst alt und vergesslich sein werden. Doch nicht ohne das Wissen um die Liebe Gottes, die uns niemals, niemals, niemals vergisst.

 

"Werft euer Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat." Hebr. 10, 35

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019