"Gerechtigkeit führt zum Leben; aber dem Bösen nachjagen führt zum Tode." Spr 11,19
Neulich musste ich mit meinem Jüngsten zum Arzt gehen. Das Wartezimmer war mit Kindern und deren Eltern gefüllt. Auf einmal sprang eine Dreijährige mit strohblonden Zöpfchen wie von der Tarantel gestochen vom Schoß ihrer Mutter. Sie baute sich vor ihr auf und rief zornig: "Mama, du bist böse!" Sie blickte wirklich finster. Ich weiß nicht, was vorgefallen war, irgendetwas passte der jungen Dame nicht. Aber eins weiß ich ganz bestimmt: Ihre Mutter war ganz gewiss nicht böse, im Gegenteil.
Diese kleine Geschichte zeigt, wie kompliziert es ist, das "Böse" zu fassen. Denn das, was wir als böse bezeichnen mögen, muss durchaus nicht böse sein. Woran lässt sich das "Böse" messen? Wenn das so einfach wäre. Seit Jahrtausenden ringen Philosophen und Theologen darum, es zu ergründen und angemessen zu beschreiben. Ihre Versuche sind Stückwerk geblieben. Jeder weiß, was gemeint ist, wenn vom "Bösen" die Rede ist. Es fallen uns auch massenhaft Beispiele dafür ein. Aber Herkunft, Charakteristik, Wesen und Macht des Bösen zu beschreiben ist abschließend nicht gelungen. Es würde viele hundert Seiten benötigen, um diesen angestrengten Geistesbewegung nachzuzeichnen. Ich kann das nicht leisten.
Wir wollen hier nur holzschnittartig festhalten: Der Mensch neigt dazu, das als "böse" zu bezeichnen, was sich scharf gegen ihn richtet und in den Grundfesten erschüttert. Wenn wir bedroht werden, verletzt oder zu Unrecht angegriffen, wenn uns Schmerzen zugefügt, der Mut genommen und die Hoffnung zerstört werden, dann ist das "Böse" im Spiel. Es hat eine personale Dimension, weil es keine anonymen, gesichtslosen Mächte sind, die über uns herfallen, sondern immer Menschen dahinter stecken aus Fleisch und Blut. In diesem Sinne gibt es das "Böse" oder "den Bösen", das möchte ich nicht bezweifeln.
Es fragt sich nur, ob ich nicht auch in diesem Sinn zu einem "bösen" werden kann. Ich getraue mich nicht, das kategorisch auszuschließen, obwohl ich das gern würde. Nein, ich kann es nicht ausschließen; ich glaube sogar zu ahnen, dass es Menschen gibt, die mich für "böse" halten oder aus ihrer Perspektive als "böse" erlebt haben mögen.
Sind wir in unserer Selbsterkenntnis so weit gekommen, rückt uns die Sache brennend auf den Leib. Nicht wahr, es ist eine kinderleichte Sache, irgendwen "böse" zu nennen. Das ist schnell getan, gar kein Problem. Es ist dagegen eine hochnotpeinliche Angelegenheit, sich selbst (mindestens dann und wann und in zugespitzten Situationen des Lebens) als "böse" zu bekennen: "Was hat mich damals nur geritten, dass ich so und so agiert oder reagiert habe?"
Das Schlimme ist: Die Macht des Bösen hat die Eigenart, das Leben zu hindern, dem Leben nach dem Leben zu trachten. Es gehorcht der Logik des Todes. Wo das "Böse" Macht gewinnt, auch das durch mich begangene, beginnt Zerstörung, Abbruch, Absterben, Erkalten, letztlich der Tod - im übertragenen Sinne. Hier sind wir dem Verständnis unseres Spruches vielleicht nahe gekommen: "... dem Bösen nachjagen führt zu Tode."
Das ist eine grässliche Falle. Bloß gut, dass es den ersten Halbvers gibt: "Gerechtigkeit führt zum Leben." Hier ist ein Ausweg gewiesen.
Ringen wir darum, gerecht zu werden. Das heißt im biblischen Sprachgebrauch zunächst, auf den Willen Gottes und seine Gebote zu hören. Es heißt weiterhin, um den "Balken im eigenen Auge" vor dem Splitter im Auge des Nächsten zu wissen (vgl. Mt 7,3). Und es heißt schließlich, auf die Kraft der Vergebung zu vertrauen, die Gott dem schenkt, der sich im Glauben an Christus von der Macht der Sünde und des Bösen befreien lässt. Er gewinnt einen neuen Stand.
So werden wir frei. So werden wir gerecht. So gewinnen wir das Leben.
Zum Nachdenken noch ein Wort von Matthias Claudius: "Und der ist nicht frei, der da will tun können was er will, sondern der ist frei, der da wollen kann, was er tun soll. Und der ist nicht weise, der sich dünkt, dass er wisse; sondern der ist weise, der seiner Unwissenheit inne geworden und durch die Sache des Dünkels genesen ist." (Brief an seinen Sohn Johannes, 1799)
Noch einmal: Es gibt eine Hoffnung. Das Böse ist nichtig vor der Gerechtigkeit. Wir sehnen uns danach, Gerechte zu sein. "Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden." Mt 5,6