"Ich bin nackt von meiner Mutter Leibe gekommen, nackt werde ich wieder dahinfahren." Hi 1,21
Für gewöhnlich wird dieser Vers als weise Einsicht in die Vergänglichkeit aller Dinge und die Sinnlosigkeit des Anhäufens von Besitztümern verstanden. "Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben" (Michael Frank) . Dieser Vanitas-Gedanke, den die Barockzeit so liebte, bleibt zu allen Zeiten interessant. Unser Zeitalter, das eher vom Narzissmus geprägt ist, liebt ihn nicht sonderlich. Wer ihn äußert, gerät in den Geruch eines Pessimisten oder Misanthropen. Ein ordentlicher Narzisst unserer Tage gibt ja gern zu ein solcher zu sein, ist noch stolz darauf und unterdrückt jeden Gedanken an die Brüchigkeit seines Lebens.
Die Barockzeit, wie gesagt, dachte hier anders. Die anonyme Dichtung, die Bach in seiner Kantate BWV 26 benutzt hat, spitzt diesen Gedanken noch drastsich zu. Hier kann man ihn hören: https://www.youtube.com/watch?v=JDAZVWiJfJw
"An irdische Schätze das Herze zu hängen
ist eine Verführung der törichten Welt.
Wie leichtlich entstehen verzehrende Gluten,
Wie rauschen und reißen die wallenden Fluten,
Bis alles zerschmettert in Trümmern zerfällt."
In unserem Hiob-Vers steckt noch ein Zweites. Er beschreibt das Leben als ein Interim. Es beginnt nackt, schwach und mittellos. Es muss genauso nackt, schwach und mittellos enden. Es ist ein Intermezzo, das eingefasst wird von einer gleichartigen, entgegengesetzten Bewegung. So wie es wurde, so muss es vergehen.
Das Neugeborene und der sterbenskranke Greis haben etwas gemeinsam. Das ist die unserem Vers zugrunde liegende Logik. Wenn wir diesen Gedanken ausziehen, können wir sagen: Das, woraus der Mensch kam, muss das sein, wohin er geht.
Wo kam er her? Aus der Geborgenheit, Wärme und Nähe des Mutterleibes. Ist er wiederum auch dahin unterwegs, wenn "nackt dahinfahren" wird?
"Kann denn ein Mensch wiederum in seiner Mutter Leib gehen ...?" Ach Nikodemus, nein, wohl nicht. Über das Ende des Intermezzos hinaus lässt sich nichts Genaues sagen.
Aber das lässt sich sagen, dass wir unterwegs sind und genauso wenig ins Nichts fallen werden, wie wir aus dem Nichts gekommen sind. Denn unser Wohin wird unserem Woher entsprechen. Es steht bei Gott und seiner Liebe, Nähe und Geborgenheit.
Siehe, die Angst, zu wenig Leben abzubekommen, ist unbegründet. Lass dich davon nicht gefangen nehmen. Du musst hier nicht horten, als gälte es die Ewigkeit. Du brauchst hier keine Angst zu haben, als wäre das Interim das Ende von allem.
Am besten wäre, du könntest dich tagtäglich freuen auf das, was der neue Tag bringt an Plage und Freude. "Wir haben nichts in die Welt gebracht; darum können wir auch nichts hinausbringen. Wenn wir aber Nahrung und Kleider haben, so wollen wir uns damit begnügen." 1 Tim 6,7-8
Bis irgendwann der allerletzte Tag auf dieser Welt vergangen sein wird, der - wundersam zu sagen - zum "neuesten" werden soll nach Gottes Verheißung.