Gedanken zur Tageslosung am Donnerstag, den 6. August 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Er handelt nicht mit uns nach unsern Sünden und vergilt uns nicht nach unserer Missetat." Ps 103,10

 

Dass Gleiches mit Gleichem vergolten werden muss, ist dem menschlichen Empfinden tief eingepflanzt. Schon kleine Kinder fallen übereinander her, wenn das eine dem anderen die Sandburg demoliert. Weite Teile unseres Rechtsempfindens und unserer Rechtsprechung basieren auf diesem Grundsatz. Ein zugefügter Schade ist in gleichem Umfang zu ersetzen, eine Straftat entsprechend zu kompensieren. Früher galt der Grundsatz Leben gegen Leben. Das ist auch die Begründung für die Todesstrafe bei Mord gewesen. Heute sind Strafen an Leib und Leben in Deutschland abgeschafft, aber der Grundsatz wurde weitestgehend aufrecht erhalten. So steht z. B. auf Mord auch heute noch die schwerste denkbare Strafe, nämlich lebenslänglicher Freiheitsentzug.

 

Was Sünde ist, kann von diesem Entschädigungsgrundsatz her leicht verstanden werden. Das Gottesgesetz, wie es etwa in den Zehn Geboten niedergelegt ist, steht im Range eines Naturrechts und ist allgültig. Es dient dem Leben des Menschen in Hinblick auf Gott sowohl als auf den Nächsten. Es zu brechen gefährdet das gesunde Verhältnis zu Gott und Menschen gleichermaßen. Wie sollte dieses Zerreißen des Bandes nicht als Missetat betrachtet werden dürfen? Wie sollte das nicht eine Bestrafung nach sich ziehen? Das Verhältnis könnte je nur wieder geheilt werden durch den Ausgleich, der das Gleichgewicht wieder herstellt. Denn das Gesetz sagt: "Zahle, was du schuldig bist!" Das leuchtet ein und entspricht dem, was wir als gerecht empfinden.

 

Es ist nicht leicht, das anzuerkennen. Wer mag schon gerne "Sünder" genannt werden? Das ist doch recht unangenehm. Das alte Beichtbekenntnis der lutherischen Kirche "Ich armer, elender, sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünden und Missetat ..." ist deswegen auch weitgehend aus der Mode gekommen und durch seichtere Formulierungen ersetzt worden. ("Ich bin nicht so, wie du mich haben willst ...") Allgemein ist die Überzeugung die: Ich bin doch eigentlich ein ganz passabler Kerl; es ist zwar nicht alles OK bei mir, aber im Großen und Ganzen ... Wir denken doch eher zu gut von uns selber, als dass wir willens wären, unser Handeln mit so harten Worten zu brandmarken. Mit anderen Menschen sind wir interessanterweise nicht so zartfühlend. Sie wurden und werden bis auf diese Stunde gern kriminalisiert mit Worten und Werken. Die törichte Mainstreampresse ist voll von solchen selbstgerechten Kommentaren. Gebe Gott, dass ihr die bundesrepublikanische Rechtsprechung, auf die ich große Stücke halte, hierin nicht folgt.

 

Wie kommt man nun aus dem Schlamassel der Sündhaftigkeit? Eine berühmte Möglichkeit, die Sünde loszuwerden, hat Friedrich Nietzsche formuliert. Er leugnet schlicht ihre Existenz. Sie ist nur eine üble Erfindung. Wenn es keine Sünde gibt, kann man auch nicht schuldig sein. Dann ist nichts zu heilen oder wieder gut zu machen. "Herkunft der Sünde. Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christentum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung ... Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen - das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine [Gottes] Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt - das lässt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert ..." (Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 135)

 

Aber Nietzsche verfehlt das Eigentliche. Er interpretiert das Eingestehen der Sünde und die Sehnsucht nach Entschuldung lediglich als unwürdigen Akt der Selbstverleugnung oder Selbstvernichtung. Gott kann er dann nur als hartherzigen Tyrannen verstehen, der seine gekränkte Ehre wiederherzustellen sucht. Ach, beides ist weit gefehlt, abgesehen davon, dass die Sünde dadurch, dass ich sie für ein Hirngespinst halte, nicht los werde.

 

Folgendes ist zu erinnern:

 

1. Um vor Gott die Sünden zu bekennen, umzukehren und um Vergebung zu bitten, braucht es eine große Stärke, ja einen Löwenmut. Es ist ja viel leichter, die Verfehlungen zu verschweigen oder unter den Teppich zu kehren und sich nicht weiter darum zu scheren und zu sagen: Es wächst doch Gras darüber! Und warum soll ich nicht auf dem Unglück der anderen mein eigenes Glück errichten? Aber was wäre daran heilvoll?

 

2. Außerdem betont der Vers ja gerade, dass unser Gott eben nicht der grausame Potentat ist, der die Majestätsbeleidigung mit Feuer und Schwert vergilt. Der Gott, den die Heilige Schrift verkündigt, ist eben gerade der, der "die Missetat nicht vergilt". Er ist derjenige, der sich, da sonst nichts und niemand helfen kann, selbst in die Bresche wirft, um seine Schöpfung, "ein Bild das ihm gleich sei", zu retten. Das ist die Wahrheit. Folglich gilt: "Wir glauben, durch die Gnade des Herrn Jesus selig zu werden." Apg 15,11

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019