von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner
"Meine Augen sehen stets auf den HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen." Ps 25,15
Als ich meine erste Stelle in Groitzsch, im Leipziger Südraum, verließ, schenkte mir zum Abschied eine alte Dame eines meiner Lieblingsbücher. In all den Jahren hatte sie fast keinen Gottesdienst verpasst. Sie hatte immer in der zweiten Bank gesessen und mit leicht zurückgelegtem Kopf über mich hinweggeblickt. Das tat sie, weil sie blind war von Geburt. Sie wohnte zusammen mit ihrer uralten Mutter, die ihr ein Leben lang Bücher vorgelesen hatte. Sie wusste, dass ich den "Amerikafahrer " von Johannes Gillhoff besonders liebe. Ich hatte manchmal spaßeshalber gesagt, dass Jürjakob ein alter, lieber Freund von mir sei, an den ich fast jeden Tag denke. Sie kannte den Briefroman ebenfalls gut. Und nun also, nach meinem allerletzten Gottesdienst in Groitzsch, ließ sie sich zu mir führen, blickte wie stets an mir vorbei und schenkte mir ihr eigenes Exemplar. Es liegt gerade neben mir auf dem Tisch. Ich habe bis eben wieder darin gelesen.
Ich suchte eine bestimmte Stelle und habe sie auch gefunden. Gleich der erste Brief hat die Überfahrt nach Amerika zum Inhalt. Jürnjakob steht an Deck und sieht die Wasserwüste und fragt sich, ob "Land Amerika" überhaupt noch irgendwann einmal kommt. "So sagte ich zu dem Kapitän: Dies ist eine traurige Gegend, da möchte ich nicht wohnen. Da hat er sich ein bisschen gelacht und weitergeraucht auf seinem Stummel. Dann kuckte er wieder ernsthaft über das Wasser. Da war nichts zu sehen. Aber er tat es doch und war gleichwie ein Mann, der ein Ziel hat und sieht weder zur Rechten noch zur Linken. Von solchem Mann kann man lernen, wie man sein Leben machen muss, wenn man vorwärts will.
An diese kleine Episode musste ich denken, als ich las: "Meine Augen sehen stets auf den HERRN; denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen." Das Leben ist nicht so unablässig spannend und aufregend, dass wir von Erfolg zu Erfolg getragen werden. Es gibt auch die erfolgreichen Zeiten, bloß gut. Aber alles in allem sind sie eher die Ausnahme. Den weitaus größten Teil unseres Lebens bewegen wir uns in der harmlosen Niederung des Alltags, im Einerlei, in der Öde der Gewohnheit. Tag aus Tag ein die gleiche Leier. Eine große Gefahr in solchen Zeiten ist Abstumpfung, Langeweile und Überdruss. Da kommt der Mensch leicht auf dumme Gedanken. Manchmal nehmen sie ihn gefangen und er zappelt wie in einem Netz.
Auch die Festigkeit des Glaubens ist davon betroffen. Auch er kann sich in ein Netz verstricken. "Falsche und böse Menschen", deren Einfluss uns gefährdet, finden sich immer. Sie sind in großer Zahl unterwegs. Denn, das haben wir auch längst erfahren, "der Glaube ist nicht jedermanns Ding", leider. Das ist nicht gut.
Darum lasst es uns halten wie der Kapitän. Mitten in der Wasserwüste hält die Richtung. Auch er steckt mitten im öden Meer. Aber er hat die Richtung zu halten, weil er Verantwortung trägt, nicht nur für sich, sondern vor allem auch für die Menschen, die ihm anvertraut sind. Sie kämen ohne ihn nicht zum Ziel.
Das gilt für jeden von uns. Die Menschen, die mit und neben uns leben, sind auf uns angewiesen. Sie sind angewiesen auf unsere Standhaftigkeit, unsere Geradlinigkeit und den nötigen Weitblick. Unser Glaube an den dreieinigen Gott ist "eine feste Zuversicht dessen, was man hofft und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht." (Hebr 11,1) Es zeichnet uns aus, dass wir solch einen Glauben ein Leben lang erproben dürfen.
Paulus schreibt: "Betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir gerettet werden vor falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen." 2. Thess 3,1-3