Gedanken zur Tageslosung am Donnerstag, den 13. August 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner 

 

"Durch seine Wunden sind wir geheilt." Jes 53,5

 

Ich bin heute mit dem Fahrrad an der Elbe entlang nach Meißen geradelt. Dort habe ich den Dom besehen. Über die Fürstenkapelle der Wettiner an der Westfront des Domes gelangt man in die Georgskapelle. Dort liegen Herzog Georg der Bärtige und seine Frau Barbara begraben. Die Wand ziert ein Triptychon von Lucas Cranach. Das Mittelbild zeigt Christus, der dem Betrachter von Maria und Johannes mit rührenden Gesten präsentiert wird. (siehe hier: https://wege-zu-cranach.de/cranach-des-monats/meissen-triptychon-herzog-georgs-und-seiner-gemahlin.html)

 

In der Kunstgeschichte wird diese Darstellung Jesu als "Erbärmde-Bild" bezeichnet, d. h. Christus gibt ein Bild "zum Erbarmen" ab. Streng genommen ist die Darstellung unrealistisch und unlogisch. Denn der sitzende Christus ist zwar lebendig dargestellt und blickt den Betrachter mit von Schmerz gezeichnetem Gesicht an, trägt aber doch die Wundmale an den Händen und an der Seite, d. h. er ist eigentlich schon tot. Das kann doch nicht sein. Aber es ist doch.

 

Was ist der Sinn solch einer "überzeitlichen" Darstellung? Herzog Georg war ein frommer Mann. Er wollte, dass die Betrachter dieses Bildes etwas Wichtiges in ihm entdecken, das mit ihnen zu tun hat.

 

Das Bild fasst die Passionsgeschichte in einer Aussage zusammen: Siehe hier, betrachte die Leiden des Herrn. Weißt du nicht, dass dein Leiden von seinem ganz und gar umfangen ist? Sieh doch dein eigenes Leiden im Spiegel des seinigen. Und wisse, dass du durch seine Wunden erlöst bist.

 

Im Jesajabuch finden sich vier merkwürdige, ja rätselhafte Stücke, die versprengt für sich stehen, aber doch eigentümlich zusammengehören. Sie alle reden vom "Knecht Gottes" und seinem Schicksal. Man nennt sie seit etwa 100 Jahren "Gottesknechtslieder". (Bernhard Duhm, Das Buch Jesaja, Göttingen 1892) Wer sie nachlesen will, findet sie hier: Jes 42,1-4, Jes 49,1-6, Jes 50,4-9, Jes 52,13-53,12.

 

Unser Vers entstammt dem vierten Gottesknechtslied. In ihm ist die Rede von dem misshandelten und getöteten Gottesknecht, dem sich Gott zuwendet und der für die Sünden der Menschen den Tod erleidet. "Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben." (Jes 53,14)

 

Jesaja sagt nicht, wer dieser Gottesknecht ist. Diese Deutungsoffenheit zeichnet die Gottesknechtslieder aus. Entsprechend gibt es eine große Fülle von Zuschreibungen.

 

Die christliche Kirche hat diese Texte von Anfang an als bildreiche und berührende Prophezeiungen auf Jesus Christus gelesen. Dahinter können wir nicht zurückgehen.  Sie sind von solcher Eindringlichkeit, dass uns, wenn wir sie lesen, das Bild des leidenden Christus unwillkürlich vor das innere Auge tritt.

 

Es bleibt ein undurchdringliches Rätsel, warum Gott das Leiden der Menschen nicht von Anfang an ein für alle Mal aus der Welt geschafft hat, auf dass es nicht sei. Wenn er doch lauter Liebe ist, wie kann es dann Schmerz und Tod geben? Das kann doch nicht sein. Aber es ist doch.

 

Ja, es ist uns sogar denkunmöglich, dass es nicht sei. Denn er müsste eine Welt geschaffen haben, in der es kein Werden und Vergehen gibt. Eine solche wäre mithin nicht unsere Welt. Wenn wir Menschen "Welt" sagen, wissen wir Schmerz, Leiden und Tod notwendig in sie eingeschrieben, tief und unverzichtbar.

 

Aber was Jesaja prophezeit und was sich in Christus, dem Sohn Gottes verwirklicht, bedeutet, dass wir mit unseren Leiden niemals allein in dieser Welt da stehen. Wir würden verzweifeln, wenn es keine Weg gäbe, sie zu überwinden. Aber es gibt ihn. Er führt uns mit dem leidenden Christus zusammen. Und, über ihn, bringt er die Gläubigen der weltweiten Christenheit zusammen.

 

"Jesus sollte sterben für das Volk und nicht für das Volk allein, sondern auch, um die verstreuten Kinder Gottes zusammenzubringen." (Joh 11,51-52)

 

Wir stehen in einer Leidensgemeinschaft. Herr Gott, hilf uns da hindurch, wie du in Jesus Christus durch Leiden und Tod hindurch gegangen bist.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019