von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner
"Bedrückt nicht die Witwen, Waisen, Fremdlinge und Armen!" Sach 7,10
Es ist mir einmal der Ausspruch einer jungen Dame erzählt worden, nachdem sie einer anderen den Ehemann ausgespannt hatte und deswegen zur Rede gestellt worden war. Er lautete: "Warum soll ich mein Glück nicht auf dem Unglück einer anderen aufbauen?"
Nun ist dies ein besonders krasser Fall, der aber das, worum es auch dem Propheten Sacharja geht, drastisch hervortreten lässt. Es geht um die elende Gesinnung, mit der solche oder ähnliche Sprüche getan werden, die von Güte, Demut, Ehre, Zurückhaltung, Beständigkeit, Würde, Zucht und Treue nicht die mindeste Ahnung haben. Es ist ein Trauerspiel.
Man sollte denken, was Sacharja hier fordert, sei eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Fragte man in die Runde, erhielte man zur Antwort: Natürlich, das ist doch klar, dass Witwen, Waisen, Fremdlinge und Arme zu schützen seien. Der Grundgedanke ist, dass der Starke seine Stärke nicht ausnutzen, keinen Gewinn daraus schlagen oder im Übermut seines Übergewichts nur das Seine sollte suchen dürfen. Darüber herrscht theoretisch Einigkeit.
Aber sie herrscht eben nur theoretisch. Jeder weiß, dass die Wahrheit eine andere ist. An dieser Stelle gewinnt unser biblischer Vers eine brennende Aktualität. Warum liegt kein Segen auf der Gegenwart, wenn Macht- und Gewinnstreben wüten und wettern?
Diese Beobachtung ist beileibe nicht neu. Zum Zeichen dafür möchte an eines der berühmtesten (und unbekanntesten) Gedichte des Walther von der Vogelweide erinnern. Es trifft den Nagel auf den Kopf:
Ich saß auf einem Steine
Und deckte Bein mit Beine,
darauf der Ellenbogen stand;
es schmiegte sich in meine Hand
das Kinn und eine Wange.
Da dachte ich sorglich lange,
dem Weltlauf nach und irdischem Heil;
doch wurde mir kein Rat zuteil,
wie man drei Ding' erwürbe,
dass ihrer keins verdürbe.
Zwei Ding' sind Ehr' und zeitlich Gut,
das oft einander Schaden tut,
das dritte Gottes Segen,
den beiden überlegen.
Die hätt ich gern in einem Schrein.
Doch mag es leider nimmer sein,
dass Gottes Gnade kehre
mit Reichtum und mit Ehre
zusammen ein ins gleiche Herz.
Sie finden Hemmungen allerwärts;
Untreue liegt im Hinterhalt,
kein Weg ist sicher vor Gewalt,
so Fried als Recht sind todeswund,
und werden die nicht erst gesund,
wird den drei Dingen kein Geleite kund.
Da sitzt er und sinnt nach. (https://www.vitalis-verlag.com/fileadmin/user_upload/portal/Kulturgeschichte_Oesterreich/39_Walther_von_der_Vogelweide.jpg)
Die Gedanken kommen und gehen. Wie ist die Lösung zu finden? Ist es nicht verrückt, dass die Menschheit auch 800 Jahre später noch "auf dem Steine" sitzt und darüber nachdenkt, wie "Ehr' und zeitlich Gut" mit "Gottes Segen", dem Wichtigsten, überein kommen können? Oder fragen die Leute schon gar nicht mehr? Ich fürchte, es steht schlimm.
Wir können mit dieser Überlegung nicht schließen. Es wäre unrecht, wollten wir verschweigen, dass der Segen Gottes sich Bahn schlägt in dieser Welt. Und das allerschönste ist, dass wir im Glauben mit dabei sind und ehrenhaft eintreten können für das, was uns Gottes Geist heißt. Herr Gott, schenke uns ein reines Herz dafür. Niemand denke, er sei zu gering, zu verachtet, zu unwichtig, zu schwach, zu jung oder zu alt dafür. Solche Gründe haben weder bei Mose noch bei Jesaja oder Jeremia gegolten.
"Was gering ist vor der Welt und was verachtet ist, das hat Gott erwählt." 1 Kor 1,28 Ja, Gott hat uns in aller Schwachheit erwählt, dass wir sein Fähnlein hoch halten sollen. Wer sonst soll es tun?