Gedanken zur Tageslosung am Freitag, den 11. September 2020

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

"Höre mein Gebet, HERR, und vernimmt mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen." Ps 39,13

 

In diesen Tagen erinnere ich mich an einen Freund, den ich vor ziemlich genau 30 Jahren traf. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich unmittelbar nach der Wende ein Jahr lang in Amerika studieren durfte. Ich war damals noch blutjung. Der Kommilitone wohnte im Zimmer direkt unter mir  und fiel dadurch auf, dass er hinkte. Er war mit seinen 46 Jahren, wie mir damals schien, ein rechter Methusalem unter uns Hüpfern. Er hätte fast mein Vater sein können. Er war ein fleißiger Student gewesen,  hatte einen Bachelor- und zwei Master-Abschlüsse in Psychologie gemacht und sich nun der Theologie zugewandt.

 

Die deutschstämmigen Amerikaner  lieben das deutsche Brauchtum (oder das, was sie dafür halten). So durfte der englische Rasen des Seminars einmal im Jahr geschändet werden durch ein "Oktoberfest". Es wurde ebenfalls schon im September begangen und das Bier floss in Strömen.

 

Besagter Freund und ich saßen auf einer Bank nebeneinander. Ich fragte ihn etwas aus: Warum er eigentlich hinke? - Er wäre Soldat gewesen und verwundet worden.

So? Wo denn? - In Vietnam. Es sei lange her. In welcher Funktion er dort gewesen wäre? - Er sei im Range eines Hauptmanns gewesen, der Dienststellung nach das, was wir einen Kompaniechef nennen würden. Ob er in kriegerische Handlung verwickelt gewesen sei?

 

Erst sagte er gar nichts. Und dann hörte er gar nicht wieder auf. Für einen Moment wurde die verzweifelte Not sichtbar, die er scheinbar ein Leben lang mit sich herumtrug: Wie er zum ersten Mal einen Soldaten erschossen, wie er den Toten hinterher vom Gesicht auf den Rücken gedreht habe, wie es ihn entsetzte, dass es ein Mädchen von vielleicht 18 Jahren gewesen sei, wie ihm seine Männer entglitten wären, wie sie des Nachts heimlich aufgebrochen seien, "killing people" hätten sie das genannt und wie er nichts dagegen hätte tun können ... Am Ende entschuldigte er sich für diesen Ausbruch; ihm wäre immer so rührselig zu Mute, wenn er etwas Alkohol getrunken hätte.

 

Man kann sich vorstellen, dass ich nicht ein Wort zu sagen wusste. Wir saßen noch eine Weile schweigend nebeneinander. Heute denke ich manchmal, dass er sich die Psychologie erwählt hatte, um mit seinen seelischen Verletzungen zurecht zu kommen. Vielleicht hatte er dann gemerkt, dass diese kluge Wissenschaft und ihre therapeutischen Möglichkeiten nicht ausreichten, so dass er sich deshalb der christlichen Theologie zuwandte. "Woher bekomme ich einen gnädigen Gott?"

 

Vielleicht stand hinter allem der sehnliche Wunsch: "Höre mein Gebet, HERR, und vernimmt mein Schreien, schweige nicht zu meinen Tränen."

 

Ich hoffe, dass Gott auch wirklich zu ihm geredet hat, dass ihm in Christus der dorngekrönte Bruder begegnet ist und ihm in all seinen schicksalhaften, schuldigen Verstrickungen Vergebung geschenkt wurde. Welches Heil könnte tiefer dringen?

 

Vor Jahren suchte ich ihn, da der Kontakt abgerissen war. Schließlich fand ich nur eine "memorial page" im Internet, die vermeldet, dass er im Alter von 63 Jahren schon 2008 verstorben sei, am Tage des Seelenwägers, des Erzengels Michael. Ganz lebendig bleib er mir als einer, der sich in seiner Not dem zuwandte, von dem wir im Leben und Sterben Hilfe erhoffen.

 

"Die kanaanäische Frau fiel vor Jesus nieder und sprach: Herr, hilf mir!" Mt 15,25

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019