Predigt am Silvestertag 2021, den 31.12.2021, Spr 16,9
Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt. Spr. 16,9
In der vergangenen Woche hatte ich ein Bestattungsgespräch zu halten. Ein recht betagter Herr, Jahrgang 1933 ist heimgerufen worden und wird demnächst beerdigt werden. Er stammt aus einer russlanddeutschen Familie und ist in den Weiten Kasachstans geboren worden. Dorthin wurde seine Familie zu Zeiten des Diktators Stalin umgesiedelt. Er hat ein schweres Leben gehabt. Die Mutter starb, als er fünf Jahre alt war. Der Vater musste in die sog. Trud-Armee, eine Einrichtung, in der viele Russlanddeutsche, der Kollaboration verdächtigt, während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit leisten mussten. Da wurde er, mit zwei seiner insgesamt sieben Geschwister, in ein staatliches Kinderheim gesteckt. Dort ist er aufgewachsen. Die Spuren der vier anderen Geschwistern haben sich verloren. Er hat keinen Beruf erlernen können, sondern arbeitet Jahrzehnte als Bergmann, später auf der Kolchose. Durch Zufall lernt er seine spätere Frau, ebenfalls eine Russlanddeutsche, kennen. Deren Familie lehrt ihn die deutsche Sprache und, wie sie sagte, das Wort Gottes, das sie wie den größten Schatz der Erde bewahrten. Später hält er selbst in seiner Wohnung Lesegottesdienste. Erst als Rentner kann er nach Deutschland ziehen. Kurz bevor er starb, hat er einen letzten Wunsch formuliert. Er wolle auf seinem Grab keinen Grabstein, sondern ein Holzkreuz, nur mit seinem Namen versehen, haben. Der Grund, den er dafür angab, hat mich überrascht. Er ist voll kindlichen Zutrauens und zugleich von interessanter Ernsthaftigkeit. Wenn Christus, so seine Begründung, die Seinen am Jüngsten Tage aus den Gräbern rufe, dann wolle er ihm entgegen gehen. Aber nicht mit einem Stein auf den Schultern, sondern mit seinem eigenen Kreuz. So hat er sich das gedacht, dass sein Kreuz nehme und Schritt für Schritt in der Christusnachfolge in Gottes Herrlichkeit hinein unterwegs bleibe. "Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg, aber der Herr allein lenkt seinen Schritt."
Das alte Jahr 2021 versinkt in der Weltgeschichte und unsere persönlichen Geschichte von ihr eingefasst ebenfalls. Und wie immer sind wir etwas wehmütig, weil wir unserem Ende nun wieder ein ganzes Jahr näher gerückt sind. Wo sind die Stunden und Tage nur hin, mag mancher denken. Sie sind verflossen, wie im vergangenen Jahr auch und in dem davor. In der Erinnerung bleiben uns nur einige wenige einschneidende, teils gute teils schreckliche Erinnerungen.
Nun, wir wollen nicht nur Trübsal blasen, denn das neue Jahr 2022 erhebt sich frisch und unbekannt. Gewiss, wir tragen Befürchtungen - wie auch nicht, da die Zustände in unserem Vaterland erbärmlich sind und das Gefühl der Ohnmacht sich unser schamlos bemächtigen möchte. Manch einer fürchtet um seine Existenz. Nun, sei ruhig, liebes Herz. Hast du denn vergessen, warum wir heute hier versammelt sind? "Ist Gott für mich, wer sollte wider mich sein?"
Wir haben Zukunftspläne gefasst. Hoffentlich haben wir das getan; wenn nicht, dann wird es Zeit. Plant nur recht großzügig, mit dem nötigen Schwung, fröhlich und forsch. Denn Pläne schmieden ist eine schöne Sache, gut und richtig. "Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg" - das ist doch etwas Herrliches. Gott schenke, dass manches davon wahr werden dürfte. Wie schön wäre das, eine Lust zu leben.
Was aber, wenn es nicht so kommt? Was, wenn die Pläne platzen, einer nach dem andern? Liebe Freunde, wir sind erwachsene Leute und haben schon manches durchgemacht im Leben. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es so kommen. Werden wir dann ganz enttäuscht und vereinsamt hinterm Ofen landen?
Ich will es nicht hoffen. Nein, das möchte ich sogar unbedingt verhindern für mich und für euch auch. Der Grund ist ein dreifacher.
Zum ersten lässt sich aus unserem kleinen Vers eine klare Aussage über Gott ablesen. Er erscheint als Gegenüber zu uns wimmelnden Menschenkindern. Bloß gut, dass er seinen sorgenden und wohl auch besorgten Blick auf uns richtet.
Zum zweiten legt unser Vers nahe, dass Gott selbst aktiv wird. Er lässt es nicht damit bewenden, dass er die Welt und uns in ihr nicht wie kleine Taschenuhren aufzieht und bis zum Erschlaffen der Feder auslaufen lässt. Glaubt das nicht. Wenn es heißt, dass er unsere Schritte lenkt, dann sind wir ihm nicht egal, sondern, im Gegenteil, so wichtig, dass er sich uns zuwendet. Wir feiern das "Sich-Kümmern" Gottes im Weihnachtsgeheimnis gerade in diesen Tagen und vergegenwärtigen es nun nochmals. Ein Gott, der, um seinem wimmelnden Menschengeschlecht nahe zu sein, selbst Mensch wird, ist uns näher als nah.
Zum dritten sagt dieser kleine Vers, dass der Weg, den er uns führen wird, nicht ins Leere oder ins Nichts führt. Gott bringt uns zu genau dem Ziel, das er für uns bereitet hat. Er gibt die Richtung und kennt das Ziel. Da komme, was wolle. Es braucht natürlich eine ordentliche Portion Vertrauen und Mut, um beherzt in's Neue Jahr zu stiefeln.
Oder haben wir gänzlich vergessen, dass "denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen"? Das ist ein anstößige Satz für den, der im Sinn hat, damit eine Umwertung aller Werte zu rechtfertigen und Gutes böse, Böses aber gut zu heißen. Wir sitzen nicht in seiner Kirche. Denn was nicht gut ist, wird nicht gut, indem ich es mit guten Namen beklebe.
Aber wenn schon Schweres ertragen werden soll - und das wird aller Wahrscheinlichkeit der Fall sein - , dann nicht anders, als mit dem Wissen darum, dass es das Kreuz ist, das wir auch in diesem Jahr auf die Schultern nehmen werden, um unserm Herrn und Heiland, Christus Jesus von Nazareth zu folgen auf dem Weg ins Leben.