Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, den 2. Oktober 2022, Lk 7,11-17
11 Und es begab sich danach, daß er in eine Stadt mit Namen Nain ging; und seiner Jünger gingen viel mit ihm und viel Volks.
12 Als er aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der ein einiger Sohn war seiner Mutter, und sie war eine Witwe. Und viel Volks aus der Stadt ging mit ihr.
13 Und da sie der HERR sah, jammerte ihn derselbigen und sprach zu ihr: Weine nicht!
14 Und trat hinzu und rührete den Sarg an. Und die Träger stunden. Und er sprach: Jüngling, ich sage dir, stehe auf!
15 Und der Tote richtete sich auf und fing an zu reden. Und er gab ihn seiner Mutter.
16 Und es kam sie alle eine Furcht an und preiseten Gott und sprachen: Es ist ein großer Prophet unter uns aufgestanden, und: Gott hat sein Volk heimgesucht.
17 Und diese Rede von ihm erscholl in das ganze jüdische Land und in alle umliegenden Länder. Lk 7,11-17 (Lutherübersetzung 1545)
"Geborenwerden heißt, zu sterben anfangen." Dieser Ausspruch wird dem weisen Chinesen Laotse zugeschrieben. Wir haben es hier mit einer uralten Einsicht zu tun, die die verzweifelt traurige Tatsache ausdrückt, dass die Erdenzeit des Menschen vom Augenblick seines Seins an beständig verrinnt. Später haben die klugen Philosophen von des Menschen "Sein zum Tode" (Heidegger) gesprochen. Die übergroße Mehrheit unserer Zeitgenossen sucht dieses "Sein zum Tode" so gut wie möglich zu verdrängen. Was tut man nicht alles, um sich in großem Lebens- und Erlebnisdurst abzulenken oder zu betäuben. Aber ist nicht gerade damit bewiesen, dass wir schreckhaft unter dem Bann der Vergänglichkeit sehen? Das ist tragisch und wirklich zum weinen.
Unser Evangelium berichtet von einem Menschenzug, der aus dem Städtchen Nain herauszieht. Vor unserem inneren Auge sehen wir ihn. Es ist ein Trauerzug. Ein Knabe wird zu Grabe getragen. Dass Kinder sterben müssen, gehört zu dem Furchtbarsten, das sich denken lässt. Mit Entsetzen und Entrüstung nehmen wir diese Tatsache zur Kenntnis. Alles in uns bäumt sich dagegen auf. Die Menschenmenge ist groß, da die Anteilnahme in solchen Fällen erheblich ist. Als erste folgt die weinende Mutter dem Toten nach. Dann die Menschenmenge, voller Trauer und Entsetzen. Dieser Trauerzug ist ein besonders bitterer Ausdruck des "Seins zum Tode". Wäre der Tote, der hier zu Grabe getragen würde, wenigstens alt und lebenssatt gewesen! Schlimm genug, dass jeder Mensch sterben muss. Aber ein Kind weit, weit vor der Zeit?
Diesem Todeszug vor dem Tor der Stadt Nain begegnet ein anderer Menschenzug. Es stoßen hier zwei Menschenzüge zusammen. Aus dem zweiten löst sich eine Figur. Wir wissen, dass es Christus ist, der, wie eben gehört, die weinende Mutter sieht und ihren Knaben aus dem Tode reißt. Solche unglaublichen, unerklärlichen und frappierende Handlungen haben die Leute aller Zeiten fasziniert. Eben deshalb haben sie sie voller Staunen aufgeschrieben und überliefert. Auch heute stehen wir mit Erstaunen vor dieser Begebenheit. Selbstverständlich wissen wir nicht, was hier im Detail vor sich gegangen ist, wie solche Erscheinungen naturwissenschaftlich oder medizinisch korrekt zu beschreiben wären. Aber eins lässt sich in der Summe festhalten: Wo Christus ist, erblüht das Leben.
In diesem Moment wird aus dem Todeszug ein Lebenszug. Dem nüchternen Intellekt, der sich nur in den Bahnen von Kausalität und Analogie zu bewegen vermag, ist das alles völlig unglaublich. Aber dem, der Vertrauen in die lebensstiftende Kraft des Wortes Jesu hat, dem dämmert, dass ein solcher Glaube dermaßen verwegen ist, dass er das Leben gewinnt, wo sonst nur Tod ist. "Der Glaube ist eine gewisse Zuversicht des, was man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, was man nicht sieht." (Hebr. 11,1) Das halten wir hoch.
Für uns, die wir heute in so großem zeitlichen Abstand von den Ereignissen vor Nain stehen, bleibt nämlich die drängende Frage bestehen, ob wir im Zug des Todes wandeln - oder ob wir eintreten in den Zug des Lebens wo Christus vorangeht. Das ist nämlich möglich und geschieht in dem Augenblick, in dem wir dem auferstandenen, lebendigen Christus begegnen und seinem Wort glauben.
Aber der Tod ist ja immer noch in der Welt, mag jemand einwenden. Und ich antworte: Das ist wohl so und kann nicht bestritten werden. Aber das Evangelium vom Jüngling zu Nain beweist, dass er gegen das Lebenswort, das Christus spricht, keinen Bestand haben kann und wird. Denn "der Tod ist verschlungen in den Sieg!" (1 Kor 15,55)
Gott stärke unseren Glauben, dass wir unseren Weg trotz Not und Tod in der Kraft seiner lebendig machenden Gegenwart gehen.