Predigt am Ewigkeitssonntag, den 20.11.2022, Mk 13,33-37

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am Ewigkeitssonntag, den 20.11.2022, Mk 13,33-37

 

Von seinem Wiederkommen redet Christus in folgenden Worten:

33 Sehet zu, wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wann es Zeit ist.

34 Gleich als ein Mensch, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinem Knecht Macht, einem jeglichen sein Werk, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen.

35 So wachet nun (denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob er kommt am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder des Morgens),

36 auf daß er nicht schnell komme und finde euch schlafend.

37 Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!

 

Vor einigen Jahren erzählte mir eine Dame aus unserer Gemeinde - ihr Mann war gestorben kurz bevor ich herzogen war - dass er ihr noch immer sehr fehle. Anfänglich hätte sie gedacht, dass, wie man sagt, die Zeit die Wunde des Verlustes heilen wird. Aber im Laufe der Jahre hätte sie die Beobachtung gemacht, dass der Schmerz nur noch immer größer geworden sei. Ja, die Menschen, die der Tod von unserer Seite genommen hat, werden uns immer schmerzlich fehlen. Werden wir je mit den schmerzlichen Einschnitten in unserem Leben fertig werden? Es müsste einer kommen, der uns hilft.

 

Unser Evangelientext mahnt uns, wachsam zu sein gleich einem Türhüter, der den Menschensohn Jesus Christus einlässt, wenn er kommt. Es ist ein seltenes Bildwort, das uns alle mit Türhütern vergleicht. Manch einer wird stutzen. Was soll das? Und welche Qualitäten mögen darin zum Ausdruck kommen? Wir werden sehen, ob sich in diesem Bild etwas verbirgt, das mit uns zu tun haben kann.

 

Das Amt des Türhüters ist in der Antike Sklavensache. Es ist ein niedriger, unangenehmer Dienst. Wer ihn verrichten muss, an dem geht das pralle Leben vorüber. Denn dieses - das ist klar - spielt in den Hallen und Festsälen des Inneren, der Bel Étage des Daseins. Der Türsteher dagegen hat seinen Ort an der zugigen Eingangstüre zu versehen. Er muss froh sein, wenn er sich dann und wann auf einem Schemel oder einer kleinen Bank niederlassen kann. Ansonsten hat er denen zu dienen, die hinein- oder hinaus wollen. Sie kommen und gehen; aber er bleibt an Ort und Stelle. Er rührt sich nicht vom Fleck. Er bewacht die Tür. Der Türsteher mag, bildlich betrachtet, der Bruder aller derer sein, die sich ihr Leben einst glamouröser und abenteuerlicher erträumt hatten, aber sich unversehens an einen unbedeutenden Ort gestellt wissen, von dem sie so schnell nicht wieder wegkommen.

 

Aber das Amt eines Türhüters ist mit alledem noch nicht annähernd richtig beschrieben. So gering dieses Amt von außen betrachtet sein mag, ihm wohnt eine hohe Ehre und Würde inne. Nicht nur dass der Türhüter darüber zu wachen hat, dass die rechten Personen ein- und ausgehen. Nicht nur, dass er das Haus nachts sichert, indem er den Riegel vor die Türe legt, damit die Mächte der Finsternis nicht eindringen. Der Türhüter, der auf den Herrn wartet, der sich zu einer überraschend-unbekannten Stunde angekündigt hat, sucht seine Ehre vor allem darin, dass er die Hoffnung wach hält. Wenn auch alle im Hause vor Müdigkeit oder Gedankenlosigkeit vergessen haben sollten, dass der Herr ganz gewiss schon sehr bald kommen wird, dann ist er noch immer da, der die innere Spannkraft hat, die Augen scharf in die Ferne zu richten. Ob abends die Nebel aufsteigen, zur Mitternacht der Mond sein fahles Licht über die Gassen wirft, ob die Welt beim ersten Hahnenschrei noch im Zwielicht der Morgendämmerung schlummert oder in geschäftigem Wimmeln ans morgendliche Werk geht - die Wachheit des Türhüters ist jederzeit gegeben.

 

Es ist, als hätte Christus schon vorausgesehen, dass weite Teile der Menschheit einschlummern oder die innere Spannkraft des Wartens an der Türe dauerhaft nicht aufbringen werden. Heute stehen wir scheinbar wieder an dem Punkt (oder immer noch?), wo unsere Zeitgenossen alles Mögliche erwarten, nur nicht Christus. Besonders viel erwarten sie wieder (oder immer noch?) von ihrer eigenen Kraftanstrengung, eine heilvolle Zukunft für sich und am besten auch für den Rest der Menschheit herbeizuführen. Ich verkenne nicht, dass sie sich hochfliegenden Idealen verpflichtet fühlen. Aber es ist doch auch wieder rührend zu sehen, wie hilflos sie die "Zeitenwende" herbeisehnen, aber von Christus gar nichts erwarten.

 

Desto wichtiger ist es, den Ruf des Menschensohnes zu hören. Es ist ja nicht irgendjemand, der dort erwartet wird. Es ist Christus, das Heil der Welt, d. h. jemand, der heilen kann, was bei uns und um uns her kaputt ist.

 

Christus will uns haben wie treue Türhüter. Er will, dass wir hellwach bleiben und mitkriegen, was um uns her vorgeht. In alledem bleiben wir Sachwalter der Hoffnung seines Kommens. Komm Christus, komm zu uns und tröste und heile uns.

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019