Predigt am 4. Advent 2022, Phil 4,4-7

von Pfarrer Dr. Friedrich Christoph Ilgner

Predigt am 4. Advent 2022, Phil 4,4-7

 

Freuet euch in dem HERRN allewege! Und abermals sage ich: Freuet euch!

Eure Lindigkeit (Güte) lasset kund sein allen Menschen! der HERR ist nahe!

Sorget nichts! sondern in allen Dingen lasset eure Bitten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu. (Übersetzung Martin Luther 1545)

 

Ich erinnere mich, dass ich als Kind gern Zinn schmolz, um Figuren zu gießen. Dazu besaß ich einen kleinen Schmelztiegel, in dem ich das Zinn verflüssigen konnte. Regelmäßig bildete sich auf der Oberfläche des geschmolzenen Metalls eine grau-braune Schicht. Solange diese hässliche Schlacke nicht beseitigt war, war die blanke Flüssigkeit nicht zu sehen. Aber ich wusste natürlich, dass sie da war, und wenn ich die Schlacke wegschob, glänzte das flüssige Metall silbrig auf.

 

Eine zweite Erinnerung, etwas später. Ich hatte einige Jahre Klavierunterricht bei einer Japanerin, die es nach Deutschland verschlagen hatte. Sie war eine ganz ausgezeichnete, echte Pianistin. Sich mit Schülern wie mir abzugeben, war höchstwahrscheinlich weit unter ihrem Stand. Aber ich verdanke ihr ein besonderes Erlebnis. Jeder Klavierschüler, wenn er die Anfangsgründe hinter sich gelassen hat, bekommt einige der berühmten zweistimmigen Inventionen zu spielen. Die sind das Nadelöhr, durch die jeder hindurch muss. Es handelt sich um äußerst kunstvolle kleine Übungsstücke, die Bach einst für einen seiner Söhne geschrieben hatte. Ich erinnere mich, dass ich, obwohl sie im ersten Augenblick ganz leicht aussahen, lange daran herum zu üben hatte. Nachdem ich sie im Unterricht vorgespielt hatte, hieß mich die Lehrerin zur Seite rücken, setzt sich selbst ans Klavier - es war eins von den ganz scheußlichen Dingern, die in den Musikschulen herumzustehen pflegen - und begann zu spielen. Da geschah ein Wunder. Ich hatte mich redlich gemüht und das Stück fehlerfrei heruntergeklimpert. Aber unter ihren Händen wurde aus demselben Stück wahre und wirkliche Musik. Ich weiß bis heute nicht, welchen Zauber sie angewandt hat. Aber es war, als entstünde es ganz neu, so lebendig, frisch, witzig und brillant, dass es sich nicht sagen lässt.

 

"Freuet euch!" und "Sorgt euch nicht!", ruft uns der Apostel Paulus durch die Jahrtausende zu. "Lieber Apostel", möchte man einwenden, "das sagt sich so leicht dahin. Ist Euch nicht bekannt, dass die Deutschen kein besonders glückliches Volk sind?" Als der junge Goethe sich vor genau 250 Jahren an die Dichtung seines "Urfaust" machte, überschrieb er die erste Szene mit "Nacht" und ließ den unglücklichen Doktor die unsterblichen Worte sprechen: "Darum ist mir auch alle Freud entrissen / bilde mir nicht ein, was Rechts zu wissen".

 

Was soll da "Freuet euch!" und "Sorget nicht!"? Freude und Sorglosigkeit sind also, wenn wir ehrlich sind und uns nicht selbst betrügen, nicht gerade unsere Stärken. Wie auch, da wir allerorten haarsträubenden Ungeheuerlichkeiten und Frechheiten ausgesetzt sind. In manchem von uns ist sogar schon der Ärger über die tagtäglichen Zudringlichkeiten einer deprimierten inneren Emigration gewichen.

 

Liebe Freunde, genug von dem Gejammer. Von Seiten des Evangeliums ist ihm Einhalt zu gebieten. Wohin soll das führen, wenn wir uns so liederlich gehen lassen? So wahr es sein mag, dass der Alltag und die gegenwärtigen Zustände in unserem Leben und Land keinen Anlass zu Freude und Sorglosigkeit bieten mögen, so gewiss ist darauf zu verweisen, dass sie nur die hässliche Oberfläche unseres Daseins sind. Der reine Stoff liegt gewiss darunter. Die Schlacken und Verunreinigungen sind mit ihm nicht zu verwechseln. Es darf uns unter keinen Umständen der Fehlschluss unterlaufen, dass die Begebnisse und Geschehnisse des Alltags jene tiefe und anhaltende, allgegenwärtige Freude und Sorglosigkeit zu schenken vermögen, von der der Apostel spricht.

 

Wer fröhlich und sorglos sein möchte, braucht also einen Grund dazu. Fröhlichkeit und Sorglosigkeit ohne Grund ist albern, schwärmerisch und etwas peinlich. Damit haben wir nichts zu schaffen.

 

Es lohnt sich, nach dem Grund der Freude Ausschau zu halten, denn er ist verborgen und will freigelegt sein. Der Apostel Paulus benennt ihn. Er sagt: "Der Herr ist nahe", d. h. der lebendige, auferstandene und erhöhte Christus ist nicht in unerreichbarer, unnahbarer Ferne. Eben den benennt er als Ursache einer tiefen Freude auch in freundlosen Zeiten, wie wir sie nur zu gut kennen. Und in der Nähe des Erlösers der sich in Schmerzen krümmenden Welt erblickt er den Grund einer gelassenen und gefassten Sorglosigkeit, wiederum mitten in Zeiten schwerster Verunsicherung.

 

Ist das wohl zu fassen?

 

Offensichtlich nicht für jeden. Aber für uns, die wir Christus vertrauen, schon. In seinem Wort kommt er uns nahe. Wo wir ihn hören, d. h. auf ihn hören und ihm zuhören, da muss uns geradezu unerwartet die große Freude packen.

 

Freude worüber? Dass doch noch nicht alles aus ist. Dass wir noch nicht verloren sind. Dass es eine Zukunft gibt für uns und unsere Kinder. Dass wir, und zwar jeder von uns, des göttlichen Heiles gewürdigt sind. Und dass unser gefährdetes Leben nicht gänzlich sinnlos geworden ist.

 

Ist das nichts?

 

Wer dem nachsinnt, wird aufhorchen. Es ist wie wenn ein Lied zu hören wäre, das in den toten Noten verborgen war und plötzlich aufklingt. Nicht umsonst gehört das Singen unmittelbar zur Freude. Ich meine nicht ein oberflächliches happy clappy und Trallala als Ausfluss irgendeiner Lustigkeit. Sondern ich meine jene Freude, die die tränenerstickte Stimme überwindet und singen macht aus vollem Herzensgrund.

 

Im übrigen meine ich, dass die Kirche Christus verkündigen muss, Freiheit, Wahrheit und Leben.

 

Quelle
Gemeindebrief Christuskirche Mai 2019